Streifzug durch die Dichtkunst Begegnungen mit Blake, Goethe, Tennyson, von Droste-Hülshoff u. a.
Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2022 (online)
5 Die Königsformen: Ballade und Sonett
Balladen
Balladen werden heute oft als mehrstrophiges, erzählendes Gedicht definiert. Sie waren ursprünglich eine Gattung des Tanzliedes (von lat. ballare = tanzen) und gehen in ihrer klassischen Form mindestens auf das Mittelalter zurück. Die Themen der Ballade entstammen oft dem mittelalterlichen oder märchenhaften Kontext, doch auch die Bearbeitung antiker ebenso wie zeitgenössischer Stoffe ist zu beobachten. Die Texte können ernsthafter, ironischer oder humoristischer Natur sein. Gerne werden Balladen als „Miniaturdramen“ bezeichnet, eine im Detail nicht immer zutreffende, aber vereinfacht zumeist passende Umschreibung.
Abb. 1 Balladen: Typen und Themen. Die Grafik zeigt die häufigsten Balladenformen und -inhalte. Farblich identische Gruppen besitzen inhaltliche oder formale Ähnlichkeiten, die sie miteinander verbinden. Grafik: KL
Formal schöpft die Ballade aus den Merkmalen aller drei klassischen literarischen Gattungen: Lyrik, Drama und Epik. Aus dieser Beobachtung heraus formulierte Goethe seine Ur-Ei-Metapher, in der er postulierte, dass in der Ballade die literarischen Gattungen noch miteinander verschmolzen seien, indem in ihr die epische Erzählweise, die lyrische Form und die dramatische Gestaltung in einem Text zusammenkämen.
Abb. 2 Goethes Ur-Ei-Metapher. Grafik: KL
Im 18. Jh. fand ein Wechsel von der mündlichen hin zur schriftlichen Überlieferung statt (vgl. Brüder Grimm). In der Folge kam es zu einer Unterscheidung des Balladengenres in die traditionelle Volksballade und die von modernen Dichtern erschaffene Kunstballade.
Tab. 1 Volks- und Kunstballade: Merkmale und Vergleich
Wir haben im Seminar Theodor Fontanes Heroische Ballade „John Maynard“ (1886) und aus dem Bereich der Elementar-Balladen Annette von Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“ (1842) besprochen, die beide zu den Kunstballaden zu zählen sind.
Sonette
Die Form des Sonetts entstand im 13. Jh. in Italien. Der Begriff leitet sich von den lateinischen Wörtern sonare „tönen, klingen“ und sonus „Klang, Schall“ ab. Frühe Meister des Sonetts sind Dante (~1265-1321) und Francesco Petrarca (1304-1374). Nach letzterem bezeichnet man das italienische Sonett auch als „Petrarca-Sonett“.
In England verbreitet sich das Sonett ab dem 16. Jh., in diesem Sprachraum ist es William Shakespeare, der die Gedichtform maßgeblich prägt. Er führt einen nachhaltigen formalen Strukturwandel der lyrischen Form ein, der eine neue inhaltliche Aufteilung des Sonetts bewirkt und dem englischen Sonett den Beinamen „Shakespeare-Sonett“ einbringt. Die Unterschiede der beiden Sonettformen werden in der folgenden Tabelle einander gegenübergestellt.
Tab. 2 Das englische und das italienische Sonett im Vergleich. Unterschiede sind in der linken Spalte in Fettdruck hervorgehoben.
Obwohl die Zeilenzahl gleich bleibt, wird deutlich, dass das englische Sonett der Entwicklung der These mehr Raum gibt. Die Synthese erfährt dadurch eine Straffung und gewinnt auf diese Weise durch ihren endständigen Reim an Bedeutung. Das Reimschema wechselt vom umarmenden Reim (abba) des italienischen Sonetts zum eingängigen, hochrhythmisierten Kreuzreim (abab) des englischen Sonetts, der in drei aufeinanderfolgenden Strophen durchgehalten wird, bis das Gedicht im finalen Endreim, dem heroic couplet, kulminiert.
Im Seminar haben wir William Shakespeares „Shall I Compare Thee To A Summer’s Day?“ (Sonnet 18) sowie Elizabeth Barrett Brownings „How Do I Love Thee?“ (Sonnet 43) besprochen.
⇒ 6 Von der Antike bis in die Moderne
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