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Streifzug durch die Literaturwissenschaften: Textgattungen und Literaturklassiker
Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2020 (online)
3 Textgattungen 2: Epik – Kleinform Kurzgeschichte
Bei dem Begriff „Kurzgeschichte“ handelt es sich um eine Lehnübersetzung aus dem Englischen (short story). Die Kurzgeschichte ist Teil der narrativen Epik und wird weitgehend über ihre Länge definiert, nachrangig auch über ihre Komposition: Die Handlungsfolge ist i.d.R. stark verdichtet, linear und stringent. Sie wird häufig „vom Schluss her geschrieben“, d. h., dass der Ablauf des Geschehens rückblickend als ein gerichtetes Zustreben auf eine unausweichliche Lösung, eine erschütternde Erkenntnis oder ggf. auch einen bewusst offenen Ausgang hin erkennbar wird.
Im 19. Jh. begann sich die Autorschaft in den USA und Europa als Beruf zu etablieren. Für den Schriftsteller ergab sich damit zwingend die Notwendigkeit eines regelmäßigen Einkommens durch seine schreibende Tätigkeit. Diese wurde v. a. durch die Entwicklung des US-amerikanischen Zeitschriftenmarktes möglich, der den Autoren bessere Absatzmöglichkeiten bot als der Buchmarkt. Die Kurzgeschichte entsteht in dieser Zeit zunächst als Zeitschriftenbeitrag, beginnend in den Vereinigten Staaten und England. „Rip Van Winkle“ (1819) und „The Legend of Sleepy Hollow“ (1820) von Washington Irving gelten als erste Kurzgeschichten der Weltliteratur. Wichtige Vertreter des Genres der Kurzgeschichte waren im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Edgar Allan Poe, F. Scott Fitzgerald, William Faulkner und Ernest Hemingway. In Deutschland wurden Kurzgeschichten verstärkt ab 1920 zum Medium der neuen Literaten. Zu ihnen gehören Heinrich Böll („Wanderer, kommst du nach Spa…“, 1950), Siegfried Lenz (Sammelband Der Anfang von etwas, 1958 – eine Reminiszenz an Hemingways, „The End of Something“, 1925)
Abb. 1 Die klassischen Textgattungen mit Unterkategorien im Überblick unter Hervorhebung der Gattung „Epik“ und der Kleinform „Kurzgeschichte“. Grafik: KL
Kurzgeschichten bedienen sich der gleichen Erzählertypen wie andere Formen der Epik. Folglich finden sich auch hier der Ich-Erzähler sowie der auktoriale und personale Erzähler. Anders als beispielsweise im Roman hat der Autor einer Kurzgeschichte jedoch sehr viel weniger Raum zur Entwicklung seines Erzählers zur Verfügung. Er muss dem Leser daher sehr viel schneller einen Eindruck von dessen Eigenschaften vermitteln. Dies betrifft z. B. die wichtige Frage der Glaubwürdigkeit. Darf der Rezipient dem Erzähler vertrauen? Diese Frage stellt sich insbesondere bei einem Ich-Erzähler, da der Leser das Erzählte als eine Information aus erster Hand wahrnimmt und daher i.d.R. geneigt ist, dem Erzähler bewusst oder unbewusst einen Vertrauensvorschuss zuzubilligen – ein Vertrauen, das häufig, so auch in den beiden im Seminar besprochenen Texten, enttäuscht wird oder mindestens in Zweifel gezogen werden muss.
Als Beispiele wurden im Seminar die zwei folgenden Kurzgeschichten besprochen, ein Schwerpunkt lag u. a. auf der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der beiden Ich-Erzähler.
- Edgar Allan Poe: „Das ovale Porträt“ (1842 und 1845)
⇒Fokus: Ich-Erzähler, Motive aus der Schauerliteratur, Liebe – insbesondere in ihrer Beziehung zur Kunst, Bedeutung der Glaubwürdigkeit des Erzähler (siehe der von Poe in einer zweiten Veröffentlichung veränderte Einstieg in die Geschichte) Edgar Allan Poe (1809-1849) prägte maßgeblich die Gattung Kurzgeschichte sowie die Genres der Kriminal-, Horror- und Schauerliteratur. Sein lyrisches Werk ist eine wichtige Grundlage der modernen Dichtung, insbesondere des Symbolismus (siehe dazu z. B. Poes „The Raven“). Poes Vater verließ die Familie kurz nach Poes Geburt, die Mutter starb 1811 mit 23 Jahren an Tuberkulose. Die drei Kinder der Familie Poe wurden in verschiedene Familien aufgenommen, Poe kam in die Obhut von John und Frances Allan. Als junger Mann diente Poe einige Jahre beim Militär, wurde sogar in West Point angenommen, brach die militärische Laufbahn jedoch schließlich ab. Er verdiente sein Geld als Redakteur, Literaturkritiker und freier Autor. 1847 verstarb seine Ehefrau Virginia an Tuberkulose. Poe verarbeitete seine Trauer über ihren Tod und ihre vorangegangene Leidenszeit literarisch, u. a. in der Kurzgeschichte „The Oval Portrait“. 1849 stirbt Poe unter ungeklärten Umständen in Baltimore.
- Franz Kafka: „Der plötzliche Spaziergang“
⇒Fokus: Ich-Erzähler, Familie, Entfaltung des Selbst Franz Kafka (1883-1924) hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, von dem jedoch nur ein kleiner Teil zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Der Großteil wurde postum von seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod publiziert, und zwar gegen den ausdrücklichen Willen des Autors, der seine Texte größtenteils für nicht veröffentlichungswürdig befand. Kafkas Hauptwerk umfasst drei Romanfragmente (Der Prozess, Das Schloss und Der Verschollene) sowie zahlreiche Kurzgeschichten (z. B. „Die Verwandlung“, „Heimkehr“). Nach wechselvoller Rezeption gehören sie heute zum Kanon der Weltliteratur. Kafkas Texte überschreiten Grenzen, jedoch nicht in Form eines romantischen Eskapismus, sondern als ein Ringen um Verständnis des Ist-Zustands. Häufig werden interpretative Zugänge (fälschlich) auf die schwierige Beziehung Kafkas zu seinem Vater reduziert. Für seinen ungewöhnlichen Schreib- und Erzählstil hat sich der Begriff „kafkaesk“ entwickelt.
⇒ 4 Textgattungen 3: Drama
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