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Herman Melvilles Moby-Dick und die Ägyptomanie der American RenaissanceKurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
1 Einführung und geschichtlicher Hintergrund: Die Ägyptomanie des 19. JahrhundertsGibt es eine altägyptische Motivik in Melvilles Moby-Dick? Die Antwort auf diese Frage lässt sich am besten anhand einiger Textbeispiele geben (kursive Hervorhebungen sind meine). Auf die eine oder andere Weise hat es [das Walfanggewerbe] Ereignisse gezeitigt, die an sich so bemerkenswert sind und in ihren Folgen von solch anhaltender Tragweite, dass man den Walfang mit Fug und Recht mit jener ägyptischen Mutter vergleichen kann, die aus ihrem Bauch selbst schon schwangere Nachkommen gebar. (Kap. 24, Der Anwalt) Seine [Starbucks] reine, straffe Haut passte ihm wie angegossen. Fest in sie gehüllt und mit innerer Kraft und Gesundheit wie ein wiederbelebter Ägypter einbalsamiert, schien Starbuck bestens gerüstet, noch viele Jahre durchzuhalten [...]. (Kap. 26, Ritter und Knappen) „Und dann schien Ahab auf einmal [...] eine Pyramide [...].“ (Stubb in Kap. 31, Mab, die Feenkönigin) Ich nehme an, dass die allerersten Ausgucksteher die alten Ägypter waren, denn bei all meinen Nachforschungen finde ich keine vor ihnen. [....] Die Behauptung, die Ägypter seien ein Volk von Ausguckstehern gewesen, beruht auf der unter Archäologen weitverbreiteten Überzeugung, dass die ersten Pyramiden zu astronomischen Zwecken erbaut wurden [...]. (Kap. 35, Im Masttopp) War es doch nicht so sehr sein [Moby Dicks] ungewöhnliches Körpermaß, das ihn von anderen Pottwalen unterschied, sondern – wie schon an anderer Stelle erwähnt – seine eigentümliche, schneeweiße runzlige Stirn und sein hoher, pyramidenförmiger Buckel. Dies waren seine hervorstechenden Merkmale, durch die er sich selbst in den grenzenlosen Weiten der unkartierten Meere denen, die ihm einmal begegnet waren, von weitem zu erkennen gab. (Kap. 41, Moby Dick) Es war ein schwarzverhülltes Haupt, und wie es dort inmitten dieser Totenstille hing, glich es dem Kopf des Sphinx in der Wüste. (Kap. 70, Der Sphinx) [...] auch auf ägyptischen Tafeln, so alt, dass sie bald selbst fossil sich nennen könnten, finden wir den Abdruck seiner unverkennbaren Flosse. Vor rund fünfzig Jahren wurde an der Granitdecke einer Halle des großen Tempels zu Dendera ein bemaltes Relief entdeckt [...] auf dem es von Zentauren, Greifen und Delphinen wimmelt [...]. Zwischen ihnen schwamm der alte Leviathan, zog wie ehedem dort seine Bahn, schwamm schon durch jenen Planiglobus Hunderte von Jahren, bevor Salomo in der Wiege lag. (Kap. 104, Der Wal als Fossil) Die obigen Textbeispiele zeigen anschaulich, dass die Frage, ob es eine altägyptische Motivik in Moby-Dick gibt, mit einem ausdrücklichen „Ja!“ zu beantworten ist. Melvilles Zeit war eine Zeit der Ägyptomanie, des obsessiven Interesses an Kultur, Literatur und Religion des alten Ägypten. Wie schon in früheren Jahrhunderten war auch diese Epoche gekennzeichnet von der gesteigerten und imitierenden Auseinandersetzung mit der Kunst und Geistesgeschichte sowie den kulturellen Normen des Pharaonenreiches. Ausgelöst wurde dieses Phänomen durch die außerordentlichen Erkenntnisse der Napoleonischen Ägypten-Expedition (1798-1801), die mit 35.000 Heeressoldaten zwar eigentlich primär eine militärische Operation war, doch Napoleon hatte auch mehr als 150 Mitglieder der damaligen Wissenschaftselite mit in das Land am Nil genommen, darunter Mathematiker, Astronomen, Ingenieure, Naturwissenschaftler, Architekten, Zeichner und Schriftsetzer. Ihr Ziel war die wissenschaftliche Erfassung Ägyptens in den Bereichen Altertümer, Alltagsleben sowie Tier- und Pflanzenwelt. Teilnehmer der Expedition veröffentlichten nach ihrer Rückkehr ihre Erinnerungen und Erkenntnisse in eigenen Publikationen, so z. B. Baron Vivant Denon, der Begründer des Louvre, dessen 1802 erschienenes Buch Voyage Dans la Basse et Haute Egypte einen ersten „Ägyptomanie-Schub“ entfachte. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und inspirierte sogar altägyptische Formen in der Architektur (s. u.). In den Jahren 1809-28 folgte die sukzessive Veröffentlichung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Expedition in der Description de l‘Égypte, 23 großformatigen und prachtvollen Text- und Bildbänden. All diese Veröffentlichungen sowie Publikationen in Periodicals, Zeitungen und anderen Publikumsmedien befeuerten die neue Begeisterung für das alte Ägypten. Maler wie der Schotte David Roberts, der Ägypten 1838/9 bereiste, brachten eindrucksvolle Bilder der altägyptischen Stätten und Ruinen nach Europa und Amerika, die neben ihrem dokumentarischen Charakter auch Ausdruck einer emotionalen Sehnsucht waren, die die Menschen des 19. Jahrhunderts berührte. Es kam zu einer intensiven Auseinandersetzung primär mit dem erinnerten, später auch mit dem archäologisch erschlossenen Ägypten, deren Vermischung Lebensbereiche auch weit jenseits des wissenschaftlich-ägyptologischen Interesses beeinflusste, so die Literatur, Musik, Mode, Bildende Kunst und sogar Interieurs wie das Mobiliar. In der Architektur entstand ein Baustil der als Egyptian Revival Architecture bezeichnet wird und der in Europa und Nordamerika in Bauwerken Ausdruck fand, die als bewusste Imitationen der altägyptischen Vorbilder erkennbar und z. T. heute noch erhalten sind. Beispiele sind die Egyptian Hall in Piccadilly, London (erbaut 1812), die Egyptian Bridge in St. Petersburg (erbaut 1825/6), ein dem Tempel von Dendera nachempfundenes Sandsteingebäude am Place du Cairo in Paris (erbaut 1828), die 1851 erbaute Downtown Presbyterian Church in Nashville, Tennessee (USA) oder das wenige Jahre ältere Egyptian Building of the Medical College of Virginia in Richmond, Virginia (erbaut 1845). Bereits seit der Antike galten die Hieroglyphen als Geheimschrift und Träger einer verlorenen Weisheit. Daran änderte auch ihre Entschlüsselung durch den französischen Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion im Jahr 1822 nichts. Der jahrhundertealte Hieroglyphenmythos behielt seine Wirkmacht und bediente weiterhin das Bild des alten Ägypten als eines verlorenen goldenen Zeitalters, dessen geheimnisvolle Bilder, Texte und Rituale zu ergründen ebenso Erfüllung wie Verderben verheißen konnte. Die Schriftsteller der American Renaissance, unter ihnen Herman Melville, Walt Whitman, Nathaniel Hawthorne, Ralph Waldo Emerson, Edgar Allan Poe und Emily Dickinson, ließen altägyptische Motive in ihre Arbeiten einfließen und bedienten damit vermutlich ebenso den Zeitgeist wie auch ein persönliches Interesse. Intra- und intertextuell verselbständigten sich diese Motive und bildeten ein neues literarisches Motivspektrum, das weit über seine Entstehungszeit hinaus wirken sollte.
Weiterführende Literatur
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