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Ägyptologie-Seminare > Moby-Dick > 5 Zeit und Raum

Herman Melvilles Moby-Dick und die Ägyptomanie der American Renaissance

Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2018

 

5 Zeit- und Raumkonzepte in Moby-Dick und im alten Ägypten

Das Verständnis und die Rezeption eines literarischen Textes werden von unterschiedlichen Aspekten bestimmt. Zu diesen gehören neben dem Figurenaufbau, den Figurenkonstellationen und den Ereignissen bzw. dem Handlungsverlauf v. a. auch die Gestaltung des Raumes und der Umgang mit dem Phänomen der Zeit als weitere entscheidende Komponenten.

In der abendländischen Kultur hat sich ein lineares Zeitkonzept durchgesetzt, das sich grob vereinfacht in der folgenden schematischen Darstellung veranschaulichen lässt (Abb. 1).

 

Abb. 1 Zeit wird in der abendländischen Kultur i.d.R. als gerichteter Ereignisverlauf erlebt, der zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. Die Vorvergangenheit sowie die imaginierte Zukunft weisen dabei eine steigende Unschärfe mit Entfernung von der Gegenwart bzw. der erlebten Zeit auf, da sie entweder zu weit zurückliegt und von der individuellen Erinnerung nicht ausreichend klar erfasst wird (Vorvergangenheit) oder aber ihre genaue Form noch nicht hinreichend klar bestimmt werden kann (imaginierte Zukunft). Grafik: KL

 

Das Zeiterleben im alten Ägypten gestaltete sich davon stark verschieden, wie Abb. 2 zeigt. Da nach altägyptischer Vorstellung mit jedem neuen Sonnenaufgang die Schöpfung neu entstand, sich das sogenannte „Erste Mal“ also tatsächlich an jedem Morgen wiederholte, lebten die alten Ägypter eher in einer Art kontinuierlicher Gegenwart.

 

Abb. 2 Das Zeiterleben im alten Ägypten war ein zyklisches. Es konnte sich beispielsweise im Rhythmus der Tag- und Nachtfahrt des Sonnengottes oder auch in der Regierungszeit eines Pharaos manifestieren. Es besaß darüber hinaus auch eine lineare Komponente (ganz rechts), innerhalb derer sich die Zyklik als rekurrente Handlungsabläufe aneinanderreihen. Sie sind wie auf einer Spirale angeordnet, die in der Aufsicht zum Kreis wird, so dass die Linearität der Zeit von dem Empfinden der Zyklik überlagert wurde. Grafik: KL

 

Melville setzt in Moby-Dick beide Modelle des Zeiterlebens ein, wobei festzustellen ist, dass mit dem zunehmenden Eindringen in den mythisch determinierten Raum das zyklische Zeitempfinden an Bedeutung gewinnt und schließlich in den Vordergrund tritt. Beide Aspekte des altägyptischen Zeiterlebens erkennend, poltert der aufgebrachte Ahab in Kap. 134, „Die Jagd – Der zweite Tag“, gegen den weniger einsichtigen Starbuck: „Ahab ist auf immer Ahab, Mann. Dieser ganze Akt ist unwandelbar bestimmt worden. Er wurd‘ von dir und mir einstudiert, Billionen Jahre bevor der Ozean gerollt. Narr! Ich bin des Schicksals Statthalter; ich handle auf Befehl.“

Mit Blick auf Abb. 2 stellt sich die Frage, wie Form und Struktur der Rekurrenz des Ersten Mals in Moby-Dick abgebildet werden können. Dies ist durch einen einfachen Kunstgriff möglich: Eine erste Wiederholung des Ersten Mals findet bereits textintern statt, indem der Ich-Erzähler Ishmael die Geschichte von Ahab und dem weißen Wal zu Papier bringt, deren er selber ein Teil war. Die weiteren Wiederholungen erfolgen durch die Reaktualisierung der Geschehnisse durch die Lektüre des Primärtextes, es handelt sich dabei also um eine textexterne Erweiterung, die eine potenziell unbegrenzte Rekurrenz ermöglicht (Abb. 3).

 

Abb. 3 Rekurrenz des Ersten Mals in der textinternen und textexternen Umsetzung als schriftstellerisches Ereignis in Gestalt des Primärtextes Moby-Dick. Der Ich-Erzähler Ishmael wird in diesem Modell auch im mythologischen Sinne zum Schöpfer der im Primärtext erzählten Geschichte. Die hier gemachte Beobachtung gilt grundsätzlich in ähnlicher Form auch für andere literarische Texte, ist für Moby-Dick mit seinem ägyptologischen Interpretationsbogen aber von besonderer Bedeutung. Grafik: KL

 

Rekurrenz und Zyklik sind zentrale Elemente sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der bildlichen Ebene des Primärtextes. So wie der Ich-Erzähler Ishmael v. a. unter dem Einfluss von Ahab und Queequeg eine Wandlung durchläuft, so verändert sich auch seine Sicht auf die Welt. In Kap. 52, „Der Albatros“, äußert sich Ishmael negativ über das Modell der Rekurrenz und der Zyklik, die er als fortschrittsfeindlich und monoton empfindet. Klar präferiert er noch das lineare, vorwärtsgerichtete Modell, das dem Zeitkonzept der Welt entspricht, der Ishmael entstammt.

Rund um die Welt! Das ist viel in diesem Klang, das stolze Gefühle hervorruft; aber wohin führt all dies im Kreise navigieren? Nur durch zahllose Gefahren hin zu genau jenem Punkt, von dem aus wir gestartet sind, wo die, die wir hinter uns und in Sicherheit wähnten, doch alle Zeit vor uns waren. Wär‘ diese Welt eine endlose Fläche, und wir könnten, indem wir ostwärts segelten, immer wieder neue Weiten erreichen, [...] dann wäre da Verheißung in dieser Fahrt. (Kap. 52, Der Albatros; Hervorhebungen sind meine)

Doch Ishmaels Evaluation der beiden Zeitmodelle verändert sich, vermutlich primär unter dem Einfluss von Queequeg, der Ishmael mit einer anderen Weltsicht in Berührung bringt. In Kap. 87 schildert Ishmael die Begegnung mit einer großen Walherde.

Ja, wir befanden uns nun in jener verzauberten Flaute, von der man sagt, sie lauere im Herzen eines jeden Aufruhrs. Und noch erblickten wir in der entrückten Ferne die Tumulte der äußeren konzentrischen Kreise. [....] Doch weit unterhalb dieser wundersamen Welt an der Oberfläche kam uns eine andere und noch fremdere vor Augen, wenn wir über die Seite hinabschauten. [....] Die See war [...] bis in eine beträchtliche Tiefe hinab erstaunlich durchsichtig. [Es war,] als führten sie [Kälber/Babys] zwei verschiedene Leben zur gleichen Zeit und während sie doch sterbliche Nahrung aufnehmen, sich immer noch seelisch an irgendwelcher unirdischer Erinnerung laben [...]. (Kap. 87, Die große Armada; Hervorhebungen sind meine)

Deutlich ist diesem Zitat anzumerken, dass die Idee der Zyklik bei Ishmael einen neuen Stellenwert gewonnen hat. Er erkennt den Zauber und den Rhythmus des Lebens, der den ineinanderliegenden Kreisen innewohnt, ja, sich gerade in ihnen abspielt, ohne die Notwendigkeit, den Kreis zu verlassen und sich von ihm zu entfernen.

 

Der tägliche Kreis: Morgen, Mittag, Abend, Nacht

Auch Starbuck, der ansonsten so geradlinige und in der Gegenwart des Primärtextes verankerte Obermaat, fällt kurz vor Ende des Textes mit einer Äußerung auf, die ein Abbild altägyptischer Vorstellungen ist.

„Denn wenn drei Tage ineinanderfließen in einem einzigen, ununterbrochenen Zwecke, sei gewiss, dass der erste der Morgen ist, der zweite der Mittag und der dritte der Abend und das Ende der Sache – sei dieses Ende, was es mag.“ (Starbuck in Kap. 135, Die Jagd – Der dritte Tag)

Die einzelnen Bestandteile dieses Zitats werden in Tabelle 1 genauer betrachtet.

 

Tab. 1 Erläuterung der Zitatbestandteile aus Kap. 135, „Die Jagd – Der dritte Tag“ aus dem Blickwinkel einer ägyptologisch geprägten Interpretation

 

Einen besonders deutlichen Verweis auf die für das mythische Denken im Allgemeinen und das altägyptische Denken im Besonderen findet sich in Kap. 45, „Das Affidavit“.

[D]iese Wunder (wie alle Wunder) [= die Ereignisse, die Ishmael in Moby-Dick schildert] [sind] bloße Wiederholungen der Zeitalter [...] – wahrhaftig geschieht nichts Neues unter der Sonne. (Kap. 45, Das Affidavit)

Ganz unverstellt wird hier die Idee der Rekurrenz zum Ausdruck gebracht und zugleich auf die „Sonne“ als deren Ursprung verwiesen.

In der altägyptischen Mythologie entstehen Zeit und Raum im Augenblick der uranfänglichen Schöpfung. Das Voranschreiten der Zeit ist von da an identisch mit der Vorwärtsbewegung des Sonnengottes, die sich auf einer Kreisbahn vollzieht (Abb. 3, vgl. Doppelstunde 4, „Die Fahrt der Pequod“). Die Schöpfung bleibt nur bestehen, solange diese Bewegung nicht zum Stillstand kommt.

 

Abb. 3 Tag- und Nachtfahrt des Sonnengottes. Sie ist Bedingung der täglichen Erneuerung und des Fortbestands der Schöpfung. Grafik: KL

 

Ewiger Widersacher des Sonnengottes auf dessen Fahrt ist der Wasserdrachen Apophis, der in enger Verbindung zu dem uranfänglichen Chaos steht, vielleicht sogar mit ihm identisch ist. Er ist ein besonders machtvolles Rollenvorbild für Moby Dick und tritt zum Beispiel im folgenden Zitat als Vorlage in den Vordergrund.

[...] in Kenntnis dessen, dass der Weiße Wal nach wiederholten, unerschrockenen Angriffen lebend entkommen war; da kann es nicht viele Wunder nehmen, dass manche Walfänger in ihrem Aberglauben sogar noch weiter gingen; nämlich Moby Dick nicht nur für allgegenwärtig, sondern für unsterblich zu erklären (denn Unsterblichkeit ist nichts anderes als Allgegenwart in der Zeit); dass, selbst wenn [...] er dickes Blut blase, solch ein Anblick nichts als ein [...] Trugbild sein werde; denn wiederum werde […] Hunderte Meilen entfernt sein unbefleckter Blas von neuem auszumachen sein. (Kap. 41, Moby Dick)

Der Ägyptologe Erik Hornung sagt über Apophis, dass „[d]ieses Urwesen allgegenwärtig“ ist – „wo immer die Sonne erscheint, es muss im Himmel und in der Unterwelt immer wieder vertrieben werden“ (Die Nachtfahrt der Sonne, 1991). Auch hier begegnet dem Leser die Übersetzung eines mythologischen Zusammenhangs in den Kontext der Romanwelt von Moby-Dick. Geschickt nutzt Melville den Begriff des Aberglaubens, um etwas als Überzeugung zu präsentieren, das im mythologischen Kontext der Vorlage ohnehin außer Zweifel steht: Das Moby Dick/Apophis nach jeder kämpferischen Auseinandersetzung, selbst schwer verwundet und scheinbar dem Tod geweiht, sich doch immer wieder erhebt, um sich dem (nächsten) Schiff entgegenzustellen (die Sonnenbarke wird im Primärtext aus den oben erläuterten Gründen durch eine Vielzahl von Schiffen ersetzt).

Raum und Zeit wandeln sich im Verlauf von Moby-Dick parallel: Der Wechsel von einem potenziell realistischen Setting hin zu einem mythisch determinierten Umfeld geht einher mit der zunehmenden Entfernung vom Land und dem Verlust des linearen Zeitempfindens. Die Wahrnehmung der zyklischen Natur der Zeit tritt in den Vordergrund. Ishmael – und mit ihm der Leser – entwickelt nach und nach ein am mythischen Denken orientiertes Zeitverständnis, das dem neuen Raumverständnis entspricht und ihm ebenbürtig ist.

 

 

Weiterführende Literatur

Schmidt, K., Melvilles Moby-Dick als altägyptische Seelenreise
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-18174-4

Schmidt, K., Altägyptische Motive in Herman Melvilles Moby-Dick
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-16374-0

 

⇒ 6 Ishmaels Seelenreise: Von Archetypen und der zyklischen Schöpfung