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Ägyptologie-Seminare > Moby-Dick > 3 Figuren und Figurenkonstellationen

Herman Melvilles Moby-Dick und die Ägyptomanie der American Renaissance

Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2018

 

3 Figuren und Figurenkonstellationen in Moby-Dick und in der altägyptischen Mythologie

Bei der Charakterisierung der Figuren eines Textes richtet sich der Blick des Interpreten in der Regel zunächst auf folgende Punkte: Welche Eigenschaften der Figur werden im Text benannt oder aus ihren Handlungen ersichtlich? Welche Handlungen bzw. Handlungsmuster sind zu beobachten? Und schließlich, welche Motive verfolgt die Figur im Handlungsverlauf? Weitet man den Blick auf, so tritt eine weitere Ebene hinzu, die für das Verständnis der einzelnen Figuren von großer Bedeutung ist: Es ist die Frage nach der Charakterisierung der figuralen Beziehungen, d. h. die Frage, wie sich die Figur innerhalb unterschiedlicher Beziehungen (Figurenkonstellationen) unterscheidet. Verhält sich Figur A zusammen mit Figur B anders als mit Figur C? Diese Überlegungen helfen auch im Kontext dieses Seminars bei der Analyse der einzelnen Figuren in Moby-Dick und der Beantwortung der Frage, inwieweit sie ggf. Rollenvorbilder in der altägyptischen Mythologie haben, nach denen sie selbst und ihre Beziehungen zu anderen Figuren des Primärtextes gestaltet sind. Im Rahmen der Seminarveranstaltung wurde beispielhaft die Figur Ahab einer genaueren Untersuchung unterzogen.

Betrachtet man mit dem Blick eines Ägyptologen oder ägyptologisch interessierten Lesers die Figur des monomanischen Kapitäns Ahab und seine Entwicklung im Handlungsverlauf des Primärtextes, so fällt auf, dass er in unterschiedlichen Szenen Eigenschaften unterschiedlicher Rollenvorbilder aus dem Kulturkreis des alten Ägypten zeigt, speziell der altägyptischen Mythologie (Abb. 1).

 

 

Abb. 1 Altägyptische Rollenvorbilder Ahabs, die im Verlauf des Primärtextes situationsgebunden in der Figurenzeichnung hervor- oder zurücktreten. Grafik: KL

 

Zur Veranschaulichung sollen hier zwei der Vorlagen, der „gute“ Osiris und sein „böser“ Bruder Seth, genauer diskutiert werden. Die weiteren wurden im Seminar ebenfalls besprochen.

Osiris war der wichtigste Totengott der alten Ägypter. Von allen Göttern des altägyptischen Pantheons verfügt er über die mit Abstand komplexeste Vita. Der Osiris-Mythos berichtet, dass Osiris einst als guter und gerechter König auf Erden herrschte, bis er von seinem neidischen Bruder Seth getötet wird, der seinen Leichnam verschlossen in einen hölzernen Sarg in den Nil wirft. Nachdem Isis, die Schwestergemahlin des Osiris, den Körper wiedergefunden hat, bringt Seth ihn erneut an sich und zerreißt ihn in mehrere Teile, die er über ganz Ägypten verstreut. Doch der zauberkundigen Isis gelingt es, den zerstückelten Leichnam wieder zusammenzufügen, und Osiris wird zum Herrscher des Totenreiches und Vorsitzenden des Totengerichtes, vor dem jeder Verstorbene sich nach seinem irdischen Tod verantworten muss. Das Geheimnis der Verjüngung und Erneuerung des Schöpfergottes, das dieser allnächtlich in der jenseitigen Unterwelt erfährt, ist auf Engste mit Osiris verknüpft.

Der Osiris-Mythos erzählt das altägyptische Pendant des Sündenfalls und des Brudermordes der christlichen Religion, in dessen Folge der Tod in die Welt eintritt. Er begründet den Zerfall in eine mythische und eine historische Zeit und etabliert das Osiris-Schicksal als Vorbild des Schicksals jedes einzelnen Verstorbenen. Die Motive der Suche über Wasser, des Sarges als Bewahrer des Lebens, der Zerstückelung als Antithese des Lebens sowie des Todes als Übergangsritus, die den Osiris-Mythos bestimmen, finden sich auch in Moby-Dick und sind dort von Melville kunstvoll in einen neuen zeitgenössischen und situativen Kontext gestellt. Nachfolgend sollen beispielhaft ausgewählte Zitate aus dem Primärtext vorgestellt werden, die diese Punkte illustrieren (mehr Beispiele wurden im Seminar besprochen; Hervorhebungen sind meine).

Das unterweltliche Jenseits / Ahab als Osiris

Es war nun ein klarer Sonnenaufgang. [....] Gleichzeitig aber blieb Kapitän Ahab unsichtbar verborgen im Schrein seiner Kabine. (Kap. 21, Es geht an Bord)

In diesem Zitat steht der Totengott Osiris Pate für die figurale Gestaltung Ahabs: Nachdem der Sonnengott Re in der Nacht das unterirdische Totenreich des Osiris durchquert hat, verlässt er dieses am nächsten Morgen und geht verjüngt und erneuert am östlichen Horizont auf. Osiris jedoch verbleibt – unsichtbar für die Augen der Menschen – im chthonischen Jenseits und sinkt zurück in seinen Totenschlaf.

„Es fühlt sich an wie der Abstieg in das eigene Grab“, so murmelte er [Ahab] zu sich selbst. (Kap. 29, Auftritt Ahab; zu ihm Stubb)

Die Gräber des Neuen Reiches (im Tal der Könige) waren lange, in den felsigen Untergrund getriebene Anlagen. Am tiefsten Punkt lag die Grabkammer. Sie sollten den allnächtlichen Abstieg des Sonnengottes hinab in das Totenreich nachahmen.

Die isolierte Unterweltlichkeit der Kabine ließ dort ein klingendes Schweigen herrschen. (Kap. 123, Die Muskete)

Die explizit gemachte „Unterweltlichkeit“ der Kabine unterstützt die Gleichsetzung mit der unterirdisch gelegenen Dat, dem altägyptischen Totenreich. Weiterhin stellt Ishmael fest: „[E]in gewisses klingendes Schweigen [...] herrschte dort“. Im alten Ägypten galt die Stille als besonderes Charakteristikum des Jenseits, das auch als „Land des Schweigens“ bezeichnet wurde. Osiris galt als „Herr des Schweigens“.

„Ist es möglich, dass in einem gewissen spirituellen Sinn der Sarg nichts weiter ist als ein Unsterblichkeitsbewahrer?“ (Ahab in Kap. 127, Das Deck)

In diesem Zitat klingt deutlich der Osiris-Mythos an, s. o. Es ist ein hölzerner Sarg, in dem der Körper des Osiris über den Nil treibt und in dem ihn schließlich seine Schwestergemahlin Isis findet, bevor sie ihn schließlich mit Hilfe ihrer Zauberkraft wieder zum Leben erweckt.

„Die Prophezeiung besagte, dass ich zerstückelt werden sollte [...].“ (Ahab in Kap. 37, Sonnenuntergang)

Das Motiv der Zerstückelung ist ein zentrales Element des Osiris-Mythos. Es ist der brutal anmutende Höhepunkt in Seths Versuch, sich seines Bruders zu entledigen (s. o.). Doch selbst diese extreme Form der wörtlichen und im übertragenen Sinne ausgeführten Desintegration führt den Brudermörder nicht zum Erfolg, sondern betont nur die transformatorischen Kräfte des Todes und dass diese nicht zu einem Ende, sondern vielmehr zu einem Neubeginn führen.

Interessanterweise ist es gerade die Gegenfigur des gütigen Osiris, der finstere Seth, der als eine weitere und quasi gleichberechtigte Rollenvorlage für Ahab fungiert. Seth wurde v. a. im Neuen Reich als Mörder des Osiris verfemt und in die Nähe der destruktiven Kräfte des uranfänglichen Chaos gerückt, die sich v. a. in dem Schlangendämon Apophis verkörpern. Er galt als Gott der Stürme, der Wüste und Fremdländer. Doch die Figur des Seth ist mehr als jede andere Figur des altägyptischen Pantheons von Ambivalenz gekennzeichnet. Im Sonnenmythos wird Seth dank seiner Zauber- und Kampfeskraft zum machtvollen Verbündeten des Sonnengottes, der vom Bug der Sonnenbarke aus Apophis bekämpft. Das Denkmal memphitischer Theologie zeigt Seth zusammen mit dem falkengestaltigen Gott Horus in einer der wichtigsten Szenen der altägyptischen Ikonographie als Vereiniger der beiden Länder (Ober- und Unterägypten; wie sehr diese positiven Aspekte des dunklen Gottes verehrt und geschätzt wurden, zeigt sich u. a. in dem Pharaonennamen „Sethos“).

Unabhängigkeit / Ahab als Seth

Einer der wichtigsten Punkte, die Ahab mit dem düster-ambivalenten Seth verbinden, ist das in beiden Figuren klar erkennbare Streben nach Autarkie. So wie Seth sich niemandem unterordnen will und dafür bereit ist, durch den Mord an seinem Bruder den Zorn der Götter auf sich zu ziehen, erklärt Ahab: „Ich schlüge die Sonne, würde sie mich beleidigen“ (Kap. 38, Das Achterdeck). Seth ist ein Gewittergott, seine Stimme ist der Donner – in Moby-Dick wird Ahab wiederholt als „Old Thunder“ bezeichnet. Ahab hat in der Auseinandersetzung mit Moby Dick ein Bein verloren, im sogenannten Opferritus von Edfu wird einem Opfertier, das mit Seth identifiziert wird, ein Bein abgeschlagen. In den drei Tagen der Jagd steht Ahab selbst im Bug eines der Fangboote, um seine Harpune nach Moby Dick zu schleudern. Im altägyptischen Totenbuch, Spruch 108, heißt es über den im Bug der Sonnenbarke stehenden Seth: „[D]ann wird Seth seinen Speer von Erz in sie [die Schlange Apophis] stoßen [...]. Dann wirft sich Seth ihr entgegen und sagt als Zauberspruch: Weiche doch vor dem scharfen Erz, das in meiner Hand ist! Ich stelle mich dir entgegen, damit das Schiff richtig fährt.“ In dem Kapitel „Die Nadel“ vergleicht Ahab sein Schiff, die Pequod, mit dem „Meereswagen der Sonne“: „Ha ha, mein Schiff – du könntest nun wohl für den Meerestriumphwagen der Sonne gehalten werden“.

Ohne Licht / Ahab als Verdammter

„Oh! Es gab eine Zeit, als der Sonnenaufgang mich edel anspornte, so wie der Sonnenuntergang mich beruhigte. Nimmermehr. Dieses liebliche Licht, es leuchtet mir nicht [mehr].“ (Ahab in Kap. 37, Sonnenuntergang)

Das Licht des Sonnengottes ist die Voraussetzung für das Leben, dies gilt im Diesseits ebenso wie im Jenseits. Die Ausgrenzung aus dem Licht ist gleichbedeutend mit dem Ausschluss von jeglicher Form des Lebens. Es ist eine der Strafformen im altägyptischen Jenseits und gleichbedeutend mit dem „zweiten Tod“.

 

Betrachtet man diese drei ausgewählten Rollenvorbilder Ahabs, so wird insbesondere in den kontrastierenden Figuren Osiris und Seth deutlich, dass sie im konstellativen Vorbild oppositionelle Figuren sind. Wie können also beide sinnvoll Vorbild für Ahab sein? Diese Beobachtung ist damit zu erklären, dass die verschiedenen Vorbilder durch unterschiedliche Gegenüber hervorgerufen werden (Abb.2).

 

 

Abb. 2 Rollenvorlage der Figur Ahab (schwarz) mit Figuren, welche diese in den entsprechenden Konstellationen hervorrufen bzw. aktivieren (rot). Grafik: KL

 

Wie Abb. 2 zeigt, ruft Moby Dick unterschiedliche Rollenvorbilder in Ahab wach. Wie ist das möglich? Hintergrund dieser Beobachtung ist, dass Moby Dick selbst – ebenso wie Ahab – unterschiedliche Rollenvorbilder besitzt (Abb. 3).

 

 

Abb. 3 Altägyptische Rollenvorbilder für die Figur Moby Dick. Grafik: KL

 

Je nach gegebenem Kontext bedingen sich die Rollenvorbilder in beiden Figuren gegenseitig (Abb. 4).

 

 

Abb. 4 Die Rollenvorbilder für Ahab und Moby Dick sind kontextabhängig miteinander verknüpft. Gleiche Farben zeigen Vorbilder an, die sich gegenseitig evozieren. Grafik: KL

 

Aus diesen Überlegungen und Beobachtungen am Text wird ersichtlich, welch ein hochkomplexes Figurenarrangement in Moby-Dick vorliegt. Die intra- und interpersonalen Abhängigkeiten illustrieren die Vielschichtigkeit des Textes ebenso wie die der ihn bevölkernden Figuren. Wie der Ägyptologe Jan Assmann festgestellt hat, ist polytheistisches Denken stets „konstellativ“. Diese Erkenntnis lässt sich unverändert auf den Primärtext übertragen, in dem die Änderung des situativen und/oder personellen Umfelds einer Figur automatisch eine Änderung der Persönlichkeitsstruktur induziert.

„Multipersonalität“ lässt sich damit als ein Grundprinzip des Menschenbildes im mythischen Denken und auch in Moby-Dick charakterisieren. Die Figuren des Primärtextes entziehen sich einer Vereindeutigung ihrer ethisch-moralischen Wertigkeit, und der Text erhält eine immens potenzierte Deutungsvielfalt.

 

 

Weiterführende Literatur

Schmidt, K., Melvilles Moby-Dick als altägyptische Seelenreise
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-18174-4

Schmidt, K., Altägyptische Motive in Herman Melvilles Moby-Dick
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-16374-0

 

⇒ 4 Die Fahrt der Pequod: Eine Reise durch die altägyptische Unterwelt