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Das altägyptische Jenseits als Ort des Wissens und des Glaubens: Eine Einführung in die altägyptischen UnterweltsbücherKurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
4 Die 6. Nachtstunde und die Gerichtshalle des Osiris
In der 6. Nachtstunde vollzieht sich die Erneuerung des Sonnengottes, welche die Voraussetzung für den Fortbestand der Schöpfung ist. Das Pfortenbuch ergänzt diesen bedeutungsvollen Nachtstundenbereich um die Gerichtshalle des Osiris, in der auf Grundlage der irdischen Lebensführung des Verstorbenen über sein jenseitiges Schicksal entschieden wird.
Die 6. Nachtstunde: Im Herzen der Finsternis Die 6. Nachtstunde markiert den inhaltlichen Höhepunkt der Nachtfahrt des Sonnengottes. Das Obere Register beginnt sinnfällig mit neun bereits halb aus der Totenstarre erhobenen Göttern, gefolgt von mit Messern bewehrten Hirtenstäben, welche die königliche Macht und Strafbefugnis verkörpern. Der liegende Löwe mit dem Namen „Stier mit der Donnerstimme“ führt durch die Verbindung mit dem über ihm stehenden Augenpaar des Re die enge Verknüpfung von Sonnen- und Osirismythos fort. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die drei eher unscheinbar wirkenden Grabkapellen am Ende des Registers. Darin befinden sich von links nach rechts der Hinterleib eines Löwen, ein nicht identifiziertes Objekt sowie ein Kopf mit einem Götterbart; sie werden als „geheimnisvolle Bilder der Dat“ bezeichnet. Wie die anderen Unterweltsbewohner erwachen auch sie zu neuem Leben, wenn der Sonnengott an ihnen vorbeizieht und sie anspricht. Weitere Hinweise auf ihre Identität ergeben sich aus der Betrachtung des Mittleren Registers (s. u.). Das Mittlere Register zeigt die Sonnenbarke, die nun wieder, wie zuletzt in der 3. Nachtstunde, auf einem Gewässer und nicht mehr auf dem Sand des Sokar-Reiches dahingleitet. An das vertraute Bild der Barke schließt sich eine weitere Augenszene an: Der pavianköpfige Thot, der sein zweites Attributstier, den Ibis, auf seiner ausgestreckten linken Hand trägt, sitzt einer stehenden Göttin gegenüber. Sie hält in ihren hinter ihrem Rücken verborgenen Händen die Pupillen der Augen des Re. Es folgt eine aus vier mal vier Figuren bestehende Gruppe mumiengestaltiger Götter, die zum einen als Anspielung auf den Gott Osiris verstanden werden können, darüber hinaus aber auch stellvertretend für alle seligen Verstorbenen des Totenreiches stehen. Wie bereits im Oberen Register bildet auch hier die letzte Szene das eigentliche inhaltliche Herzstück des Registers. Umringelt von einer fünfköpfigen Schlange mit dem Namen „Vielgesichtige“ ist eine männliche Götterfigur zu sehen, die zwar in liegender Position, aber zugleich mit ausschreitenden Beinen dargestellt ist. Auf dem Kopf der Figur ist der Chepri-Käfer zu erkennen. Sowohl der Chepri-Käfer als auch die Körperhaltung der Götterfigur deuten darauf hin, dass es sich hier um eine Auferstehungsszene handelt. Hornung übersetzt aus der hieroglyphischen Beischrift: „Dies ist der Leichnam des Chepri [....].“ Grundlage dafür ist der Begriff Ḫprj = Chepri. Liest man jedoch wie von Gestermann vorgeschlagen ḫpr = werden/entstehen, so ergibt sich eine andere mögliche Übersetzung: „Dies ist der Leichnam dessen, der aus seinem eigenen Fleisch entstanden ist“. Während der Chepri-Käfer eine klare Bezugnahme auf die erhoffte morgendliche Neugeburt des Sonnengottes ist, verweist die zweite Formulierung stattdessen auf den Totengott Osiris. Diese Lesart gewinnt an Überzeugungskraft, wenn man eine weitere Passage aus der Beischrift, diesmal aus dem Oberen Register, hinzuzieht. Dort ruft Re den Hütern der drei Grabkapellen (s. o.) zu: „Möge sein [Osiris’] Leib atmen – das Fleisch, das ihr hütet! Ich ziehe an euch vorbei, in Frieden“. Betrachtet man beide Szenen zusammen, so lässt sich die erste Stelle so verstehen, dass Re die einzelnen Körperteile des Osiris wiederbelebt, die verborgen in den Kapellen ruhen. Die zweite Szene im Mittleren Register würde hingegen den bereits wieder zusammengefügten und in der Auferstehung befindlichen Leib des Osiris zeigen. Dieser ist zusätzlich mit dem Chepri-Käfer bekrönt, wodurch erneut eine enge Verknüpfung von Sonnen- und Osirismythos vollzogen wäre, wie sie beispielsweise bereits in der 5. Nachtstunde im Kontext der Gotteshöhle sichtbar wurde. Hornung übersetzt die zugehörige Beischrift im Mittleren Register wie folgt (Auszug; Hervorhebungen durch mich): „Dieser große Gott [Re] fährt in dieser Stätte auf Wasser, er rudert dahin in diesem Gefilde, in die Nähe des Osiris-Leichnams. Dieser große Gott erteilt den Göttern Weisungen, die in diesem Gefilde sind, wenn er bei diesen geheimnisvollen Gräbern landet, welche die Bilder des Osiris enthalten.“ Die Beischrift unterstützt mit diesen Formulierungen die oben stehende Deutung der Bildszenen und verknüpft sie miteinander. Das Untere Register greift die bestimmenden Themen der beiden darüberliegenden auf: Es werden mehrere halb aus dem Totenschlaf aufgerichtete Götter gezeigt sowie eine weitere Gruppe, deren Namen wie „Gefesselte“ oder „Zurückgehaltene“ auf die Beschränkung der Beweglichkeit durch die Mumienbinden hinweisen, welche die Verstorbenen abwerfen, wenn der Sonnengott sie passiert und zu ihrem jenseitigen Leben erweckt. Der zweite wichtige Aspekt ist der Schutzaspekt, der v. a. durch eine Gruppe von neun feuerspeienden Schlangenstäben mit Messern zum Ausdruck gebracht wird. Die sechste, alles entscheidende Nachtstunde kreist damit um die Themen Erweckung und Erneuerung (Oberes und Mittleres Register) sowie die Lösung der Totenstarre und den Schutz sowohl des Re als auch des Osiris (Unteres Register). Durch die Vereinigung dieser beiden Götter an diesem tiefsten und dunkelsten Punkt der Dat werden der Sonnengott und mit ihm seine Schöpfung erneuert und verjüngt.
Die Gerichtshalle des Osiris: Das altägyptische Totengericht Ziel der Jenseitsreise des Verstorbenen sowie seines Auftritts vor dem Totengericht des Osiris ist es, zu einem Ach zu werden, einem gerechtfertigten Toten, der in die elysischen Gefilde des altägyptischen Jenseits eingehen kann. Voraussetzung dafür ist, dass das Herz des Verstorbenen im Gleichgewicht mit der Ma‘at ist, der der Schöpfung eingegebenen gerechten Weltordnung, die das Leben der alten Ägypter im Diesseits wie im Jenseits bestimmte. Dazu wurde das Herz des Verstorbenen auf einer großen Waage gegen die Feder der Ma’at aufgewogen. War das Gleichgewicht gestört, so fiel der Verstorbene dem zweiten, endgültigen Tod anheim, indem sein Herz von der Verschlingerin vernichtet wurde, einem chimären Wesen mit dem Kopf eines Krokodils, der Mähne und dem Vorderleib eines Löwen sowie dem Hinterleib eines Nilpferdes. Bemerkenswert ist, dass der Totengott Osiris in diesem Kontext ein Anch-Zeichen in seiner Hand hält und als „Herr des Lebens“ angesprochen wird. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung der alten Ägypter, dass das irdische Dasein lediglich als eine Vorstufe zu dem eigentlich erstrebten Leben im Jenseits zu verstehen ist, das allein Osiris gewähren kann. Das komplexe Gerichtsgeschehen wurde von den alten Ägyptern kongenial in einer einzigen Bildszene verdichtet, die erstmals (unvollendet) im Grab des Haremhab (KV 57, Anfang des 13. Jh. v. Chr.) belegt ist. Die Totengerichtsszene hat im weiteren Verlauf des Pharaonenreiches zahlreiche Variationen erfahren, wobei die Hauptmotive jedoch unverändert blieben (Beispiele wurden im Seminar besprochen). Die Darstellung hat sich prägend auch auf die christliche Ikonographie ausgewirkt, speziell die Darstellung des Erzengels Michael mit der Seelenwaage (siehe z. B. Rogier van der Weyden, Jüngstes Gericht, um 1450). Ein wichtiges Element der Gerichtsverhandlung ist neben der Wägung des Herzens das sogenannte Negative Sündenbekenntnis, das in Totenbuchspruch Nr. 125 ausführlich dargelegt ist. Der Verstorbene versichert darin in Form von 82 negativen Schuldbekenntnissen, dass er die aufgezählten Freveltaten nicht begangen habe („Nicht habe ich...“). Nur wenn er dieses Bekenntnis fehlerfrei rezitieren konnte, konnte er vor den Richtern bestehen und schließlich vor Osiris geführt werden, der ihm dann Zugang zum paradiesischen Jenseits gewährte, wo der Verstorbene in der allnächtlichen Gegenwart des Sonnengottes ein sorgenfreies Leben im Überfluss führen konnte.
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