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Das altägyptische Jenseits als Ort des Wissens und des Glaubens: Eine Einführung in die altägyptischen UnterweltsbücherKurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
2 Die 1.-2. Nachtstunde: Eingang zur Unterwelt, die lieblichen WernesgefildeAnfang des 19. Jahrhunderts löste das Amduat in der Fachwelt zunächst überwiegend Überraschung und Ablehnung aus. Die Bilddarstellungen wurden als „Hirngespinste“ und „Fratzen“ tituliert. Zum Glück erkannte eine Reihe von Ägyptologen, darunter Champollion, Maspero und Piankoff, schon früh die außerordentliche Bedeutung des Fundes für das Verständnis der altägyptischen Kultur. Nicht nur finden sich hier die Grundlagen der Jenseitsvorstellungen des Neuen Reiches in außergewöhnlich vollständiger und detaillierter Form dargestellt, die Bild-Text-Kompositionen erlauben auch Rückschlüsse auf ältere mythologische Konzepte. Darüber hinaus befördern sie das Verständnis von Texten aus dem Alten und Mittleren Reich, aus denen im Amduat immer wieder Elemente aufgegriffen werden. Auch die besondere tiefenpsychologische Bedeutung der Texte wurde mittlerweile erkannt und spielt eine zunehmende Rolle in der Beschäftigung mit anderen originalen Quellen. Das Amduat erzählt davon, wie der Sonnengott sich (und damit gleichzeitig seine Schöpfung!) gegen seine Feinde behauptet, v. a. gegen den mächtigen Wasserdrachen Apophis. Dieser ist eine Personifizierung des uranfänglichen Chaos, das die geschaffene Welt umgibt und teilweise durchdringt. Auch das Jenseits ist Teil der Schöpfung, doch ist es stärker als das Diesseits mit Berührungspunkten zur primordialen Zeit durchsetzt. Der Kontakt zu dieser ungeformten Welt vor der Schöpfung ist es auch, der sich als Quelle der Erneuerung des Schöpfergottes erweist. Die Vorwärtsbewegung des Sonnengottes durch den Raum – vorgestellt als eine Barkenfahrt auf einem dem Nil vergleichbaren Gewässer – generiert die Zeit. Der Stillstand der Sonnenbarke, den Apophis herbeizuführen sucht, wäre gleichbedeutend nicht nur mit dem Ende der Zeit, sondern auch dem der Schöpfung. Immer wieder wird auf dem langen Weg durch die Unterwelt die Ambivalenz des uranfänglichen Chaos deutlich, das v. a. in Gestalt von Apophis die geschaffene Welt auf der einen Seite mit Vernichtung bedroht, auf der anderen Seite Urgrund und Quell ihrer Erneuerung ist. Die Aufteilung des Amduat in zwölf Nachtstundenbereiche, die wiederum in jeweils drei Register mit unterschiedlichen Anzahlen von Szenen aufgeteilt sind, wirkte sich stilbildend auf die nachfolgenden Unterweltsbücher aus. Gleiches gilt für die enge Verzahnung von Text und Bild sowie die Beobachtung, dass wiederkehrende Ereignisse exemplarisch einzelnen Nachtstunden zugeordnet werden, obwohl sie offenbar eigentlich in allen Stunden vorhanden sind; dazu gehören die Zuweisung von Äckern oder Kleidern, die Versorgung mit Speise und Trank, die Bergung der Ertrunkenen, die Bestrafung der Verdammten oder die Überwindung des Gottesfeindes Apophis bzw. die Bestrafung der Feinde des Osiris. Die hier und auf den folgenden Seiten herausgehobenen Details aus den Bild-Text-Kompositionen der einzelnen Nachtstundenbereiche stellen bewusst eine Auswahl dar; im Seminar wurden die einzelnen Register ausführlicher besprochen.
Die 1. Nachtstunde: Eingang zur Unterwelt Wenn die Sonnenscheibe hinter dem westlichen Horizont versinkt, ist ihr orangefarbenes Leuchten noch eine Weile zu sehen, bevor die nächtliche Finsternis sich über das Land senkt. Die alten Ägypter stellten sich vor, dass der Sonnengott sich in dieser ersten Nachtstunde in einer Art Zwischenreich befindet, die es den Lebenden erlaubt, seinen Schein noch wahrzunehmen. Erst bei seinem Eintritt in die 2. Nachtstunde schließen sich die Tore zur Unterwelt hinter ihm und die irdische Welt wird gänzlich von der nächtlichen Dunkelheit umfangen. Im Mittleren Register, das stets dem Sonnengott und seiner Barke vorbehalten ist, fährt der Sonnengott Re in der 1. Nachtstunde auf seiner Barke über den unterweltlichen Strom, der als ein Teil des Nils vorgestellt wurde. Er ist umgeben von einem schützenden Schrein. Mit ihm befinden sich u. a. die Schöpfungsmächte Sia und Hu sowie Upuaut, der Öffner der Wege, an Bord der Barke. Vor dem Bug steht die Göttin Ma’at in zweifacher Erscheinung: Sie symbolisiert die der Schöpfung immanente gerechte Weltordnung und weist auf Res rechtmäßiges Königtum und die Gerechtigkeit seiner Herrschaft hin. Vier personifizierte Stelen symbolisieren die Weisungen, die der Sonnengott den Unterweltlichen bei seiner Durchfahrt erteilt und die weiterer Ausdruck seiner herrschaftlichen Autorität sind. Eine zweite Barke, die in ihrer Mitte den Chepri-Käfer, also die verjüngte Morgenform des Sonnengottes zeigt, fungiert als eine Art Vorschau auf den erfolgreichen Abschluss der erst noch bevorstehenden Nachtfahrt und dient in dieser Funktion u. a. der Gefahrenabwehr. Die letzte Figur dieses Registers, ein Gott mit dem Namen „Der die Erde versiegelt“, ist die einzige, die vom Betrachter aus nach links blickt: Man darf sich diesen Gott als denjenigen vorstellen, der hinter dem Sonnengott und seinem Gefolge die Tore zur Unterwelt verschließt. In diesem Moment erlischt auch der orangefarbene Nachschein der Sonne auf Erden und die diesseitige Welt wird in Finsternis getaucht. Im Oberen Register sind in symmetrischen Feldern vier Göttergruppen à jeweils neun Gottheiten (erste und dritte Gruppe) bzw. zwölf Gottheiten (zweite und vierte Gruppe) dargestellt. Die erste Gruppe besteht aus Pavianen, deren Aufgabe darin besteht, dem Sonnengott bei seinem Eingang in die Unterwelt zuzujubeln. Ihre Namen, die u. a. „Der zujubelt“ und „Der die Erde öffnet“ lauten, unterstreichen diese Funktion. Die zweite Gruppe, bestehend aus zwölf Göttinnen, besitzt in erster Linie eine Schutzfunktion, während die dritte Gruppe, deren Mitglieder ihre Arme in Anbetungshaltung erhoben haben, dem Lobpreis des Sonnengottes verpflichtet ist. Die vierte aus wiederum zwölf Göttinnen zusammengesetzte Gruppe stellt Personifikationen der Nachtstunden dar. Sie werden als Gottheiten vorgestellt, die Re auf seiner Fahrt Geleit geben. Das Untere Register ähnelt dem Oberen in Aufbau und figuraler Besetzung: Erneut werden vier Göttergruppen à neun bzw. zwölf Gottheiten in symmetrisch angeordneten Kästchen gezeigt. Die erste, wie oben aus Pavianen bestehende Gruppe, musiziert für Re. Sie heißen „Kreischer“, „Tänzer“ oder „Anbetender“. Die zweite Gruppe besteht aus zwölf feuerspeienden Schlangen, deren Flammen nicht nur die Feinde des Sonnengottes abwehren, sondern zugleich die Finsternis der Dat erhellen. Die dritte Gruppe von Göttern widmet sich der Anbetung des Re, während die vierte einen thematischen Vorgriff auf den 2. Nachtstundenbereich darstellt, da in ihrer Beischrift bereits das „Wernesgefilde“ erwähnt wird, das der Sonnengott in der folgenden Nachtstunde durchqueren wird. Die Themen der 1. Nachtstunde sind folglich Lobpreis und Eingang in die Unterwelt (Oberes Register), Schutz, Herrschaft und Wiedergeburt (Mittleres Register) und schließlich Licht und Lobpreis im Unteren Register.
Die 2. Nachtstunde: Die lieblichen Wernesgefilde Die Wernesgefilde sind gleichbedeutend mit dem elysischen Jenseits der alten Ägypter. Der Verstorbene führt hier eine Existenz, die als Spiegel der positiven Aspekte des diesseitigen Lebens konzipiert ist: Es ist ein Leben im Überfluss ohne Versorgungsängste, in dem die immer wiederkehrende Gegenwart des Sonnengottes die Verstorbenen belebt und erneuert. Die Wernesgefilde sind eine Art fruchtbarer Paradiesgarten. Die einzelnen Ackerflächen werden den Verstorbenen durch Re zugewiesen und müssen von ihnen bearbeitet werden, doch anders als im Diesseits ist den Verstorbenen stets ein reicher Ertrag gewiss. Die Zeit vergeht anders als auf Erden, und so ist eine Nachtstunde für den Verstorbenen wie ein ganzer Tag im Diesseits. Wenn der Sonnengott den Nachtstundenbereich verlässt, sinken die Verstorbenen in ihren Totenschlaf zurück, um bei Res Rückkehr in der kommenden Nacht erneut zu erwachen. Das Mittlere Register zeigt neben der Sonnenbarke vier weitere, etwas kleiner dimensionierte Barken, die den dieser Nachtstunde zugeordneten Themen Versorgung (mit Getreide) und Kalender (als Ausdruck kultureller Organisiertheit auf Basis der Abfolge von Überschwemmung, Aussaat und Ernte, die im alten Ägypter den Jahresrhythmus bestimmte) gewidmet sind. Die Barken tragen Korngötter, einen Nilpferdgott (der Nil als Quelle der Überschwemmung und Garant für die Fruchtbarkeit des Landes), ein Symbol der Göttin Hathor (die als Göttin der Liebe den paradiesisch-lieblichen Aspekt des Wernesgefildes vor Augen führt) sowie Mondsichel und -scheibe, die auf das Kalendermotiv verweisen. Das Obere Register zeigt eine Reihe von Szenen, die sich mit der richtenden und strafenden Macht des Schöpfergottes beschäftigen, z. B. die letzte Gruppe ganz rechts, bestehend aus sechs auf Hockern sitzenden Richtergottheiten, von denen jede ein spitzes Messer in den Händen hält. Bei ihnen steht ein weiterer Gott, dem der programmatische Namen „Der mit machtvollem Arm, der seine Feinde schlägt“ gegeben ist. Das Untere Register ist wieder dem Thema Versorgung gewidmet und zeigt verschiedene Götter, die mit entsprechenden Attributen und Symbolen ausgestattet sind, darunter Sterne (Verweis auf den Kalender) und Kornähren (Versorgung mit Getreide). Ungefähr in der Mitte des Registers ist eine janusköpfige Figur zu sehen, die vermutlich die Vereinigung der Beiden Länder (Ober- und Unterägypten) symbolisiert und einen im alten Ägypten viel genutzten Bildtopos darstellt. Die Themen der 2. Nachtstunde sind die Versorgung, der Kalender und die Lieblichkeit des Gefildes (Mittleres und Unteres Register) sowie Macht und Bestrafung im Oberen Register.
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