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Ägyptologie-Seminare > Moby-Dick > 6 Seelenreise

Herman Melvilles Moby-Dick und die Ägyptomanie der American Renaissance

Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2018

 

6 Ishmaels Seelenreise: Von Archetypen und der zyklischen Schöpfung

„[I]n Moby-Dick ist die wahre Reise eine spirituelle [...]“, erkennt vollkommen zutreffend J. W. N. Sullivan („Melville‘s Lonely Journey“, Critical Essays on Herman Melville‘s Moby-Dick, 1992). D. H. Lawrence spricht von einer „Reise der Seele“ („Herman Melville‘s ‚Moby-Dick‘“, Critical Essays on Herman Melville‘s Moby-Dick, 1992), J. Franchot von einer „metaphysischen Reise“ („Melville‘s Traveling God“, The Cambridge Companion to Herman Melville, 1999). Allen gemein ist die Erkenntnis, dass die vordergründige Handlung von Moby-Dick, die Jagd auf den weißen Wal, nicht in erster Linie ein blutiges Walfangabenteuer ist, sondern dass sich hinter den Bildern der Geschichte eine ganz andere, sehr viel wichtigere Erzählung verbirgt: die einer Seelenreise.

In Kap. 135, „Die Jagd – Der dritte Tag“, ereignet sich folgender kurzer Dialog zwischen Ahab und Starbuck, gerade, als Ahabs Fangboot heruntergelassen werden soll:

„Starbuck!“
„Sir?“
„Zum dritten Mal tritt mein Seelenschiff diese Reise an, Starbuck.“
„Ja, Sir. Ihr wollt es so haben.“

Deutlich ist daran abzulesen, dass Ahab sich der Tatsache bewusst ist, dass seine Verfolgung des weißen Wals nicht mehr „nur“ eine Jagdhandlung ist, sondern darüber hinaus eine weitreichende metaphysische Bedeutung angenommen hat, die Ahab mit dem kulturübergreifend bedeutsamen Begriff des „Seelenschiffs“ zum Ausdruck bringt. Erhellt wird diese kurze Szene durch eine Passage aus Kap. 35, „Der Masttopp“, in der Ishmael das folgende Erlebnis eines jungen Seemanns berichtet, mit dem er möglicherweise identisch ist:

[V]ielleicht waren dort Scharen von ihnen [den Walen] am weiten Horizont, doch ist der Jüngling durch den Gleichschritt von Wellen und Gedanken so eingelullt in die opiumartige Apathie eines unbewussten Tagtraums, dass er schließlich seine Identität verliert; er betrachtet den mystischen Ozean zu seinen Füßen als das sichtbare Abbild der tiefen, blauen, bodenlosen Seele, die Mensch und Natur durchdringt; und jedes fremdartige, nur halb gesehene, gleitende schöne Ding, das sich ihm entzieht; jede schemenhaft entdeckte, aufsteigende Finne einer nicht festzumachenden Form scheint ihm die Verkörperung dieser flüchtigen Gedanken, die die Seele nur bevölkern, indem sie ununterbrochen durch sie hindurchhuschen. In dieser verzauberten Stimmung, verebbt deine Seele dorthin, woher sie kam; verteilt sich durch Zeit und Raum. (Kap. 35, Der Masttopp)

Das Meer wird in diesem Zitat zu einem Abbild der Seele des jungen Seemanns. Intrapersonale, immaterielle Vorgänge werden nach außen verlagert und nehmen die Gestalt von Schemen im Wasser an. J. W. N. Sullivan fragt sich:

Ist dies ein Schiff, sind dies Menschen, ist dieser große Wal wirklich ein Wal? Kann irgendetwas, was auf der wirklichen See geschieht, diese dunkle, tiefgehende Leidenschaft erwecken [...]? Wir erkennen, dass der weite Ozean selbst und die Wale, die in ihm schwimmen, kaum groß genug sind, um die wirklichen Tiefen und die wahren Monster sichtbar zu machen, mit denen Melville sich befasst. [...] er versucht Dinge in Worte zu fassen, die nicht vollständig in Worte zu fassen sind.

Moby-Dick führt eine in dieser Dramatik, Leidenschaft und existentialistischen Tragweite beispiellose Externalisierung innerseelischer Vorgänge seiner Hauptfigur Ishmael vor. Ein hilfreicher Begriff für eine in diese Richtung weitergehende Analyse ist der der Archetypen. Er entstammt der Analytischen Psychologie nach C. G. Jung und beschreibt Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Diese sind Teil des kollektiven Unbewussten, selbst unanschaulich und unbewusst. Ihre Wirkung ist jedoch z. B. in symbolischen Bildern feststellbar: in Träumen, der bildenden Kunst und Literatur, hier v. a. Märchen und mythologischen Erzählungen. Das Besondere an dieser Konstruktion ist, dass der Archetyp sich durch die „Bewusstwerdung und das Wahrgenommensein verändert“ (Jung, Archetypen, 2001). Diese Veränderung bzw. diese exakte Formgebung hängt ab von dem „jeweiligen individuellen Bewusstsein[], in welchem er auftaucht“ (ebd.). Diese Überlegung erklärt, weshalb es kulturübergreifend überall auf der Welt vergleichbare Typen von z. B. Götter- und Heldenfiguren gibt, diese aber jeweils kulturspezifische Besonderheiten und Eigenarten aufweisen, die sie von den entsprechenden Figuren in anderen Mythenkreisen unterscheiden. Diese Überlegungen sind von zentraler Bedeutung für die Kulturtheorie, die so Ähnlichkeitsphänomene erklären kann, die sonst schwer zu erfassen sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Beziehungen zwischen den Figuren des Primärtextes und ihren altägyptischen Vorlagen noch besser verstehen.

Die mythologischen Bilder und Konzepte in Moby-Dick haben ihren Ursprung jedoch nicht ausschließlich in der altägyptischen Mythologie, sondern sind auch von anderen Mythenkreisen beeinflusst (Abb. 1). Diese intertextuellen Bezüge erweisen sich bei genauerer Betrachtung als netzartige Verwobenheit, die den Primärtext mit einer Vielzahl anderer Texte in Beziehung setzt. Dieses Muster wird augenfällig, wenn man die Archetypentheorie hinzuzieht: Die Archetypen bilden quasi den Urgrund, aus dem die individuellen Formen aufsteigen, die Ausdruck in den verschiedenen Mythenkreisen und literarischen Bearbeitungen finden (vgl. Kulturtheorie, oben).

 

Abb. 1 Intertextuelle Beeinflussung unterschiedlicher Mythenkreise und Textformen. Die Vergleichbarkeit resultiert dabei ebenso aus dem horizontalen Austausch wie aus dem vertikalen, dessen gemeinsamer Urgrund die Archetypen sind. Grafik: KL

 

Dem Ich-Erzähler Ishmael kommt auf Ebene einer Deutung des Textes als Mythos eine immense Bedeutung zu, die die seiner Rolle im Handlungsverlauf weit übersteigt. Als wahlweise Urheber, mindestens aber erster Interpret des Geschehens, erlangt er kreative Bedeutung: Er erschafft Moby-Dick und seine Figuren, die er entweder selbst ins Leben ruft oder aber im Rahmen seiner Erzählung fiktionalisiert und auf diese Weise ebenfalls (neu) erschafft. Der erzählerische Initialmoment, der Anfang des ersten Kapitels, beginnt mit den Worten: „Nennt mich Ishmael.“ Die Formulierung legt nahe, dass es sich dabei nicht um den wahren Namen des Ich-Erzählers handelt. Die Selbstbenennung ist im mythologischen Kontext aber ein typisches Privileg des Schöpfergottes. Im literarischen Kontext erfindet sich Ishmael als fiktive Figur und fiktionalisiert auf diese Weise sich selbst und das Erlebte, wobei die Fiktionalisierung einem Schöpfungsvorgang gleichkommt. Durch die von ihm gewählten Bilder und Motive, die zu einem erheblichen Teil ihre Wurzeln in der altägyptischen Mythologie haben, wird Moby-Dick selbst zu einem mythologischen Text.

Was aber macht einen mythologischen Text aus? Der Mythos ist eine Erzählung von Göttern und Dämonen, auch von Ereignissen der Ur- und Vorzeit, mit dem Ziel eines ganzheitlichen Weltverständnisses bzw. einer symbolischen Verdichtung von Urerlebnissen zu einer religiös begründeten Weltdeutung. Mythen können zeitgenössische Überarbeitungen erfahren, die ihre Inhalte einem gewandelten gesellschaftlichen Umfeld anpassen. Dabei wird die mythologische Vorlage unter Erhalt der Figuren, Konstellationen und Handlungsabläufe in die Gegenwart des Rezipienten transponiert. Diese Wandlung hilft, die zeitliche Diskrepanz, die ggf. zwischen der Entstehung des Mythos und der Gegenwart des Rezipienten liegt, zu überbrücken und die mythologischen Inhalte weiter zugänglich zu halten (Abb. 2). Die aktualisierte Fassung des Mythos lässt sich dabei mit einer getönten Glasscheibe vergleichen, die auf den ersten Blick die auf ihr notierte, „modernisierte“ Form der mythologischen Erzählung präsentiert, es aber bei genauerem Hinsehen ermöglicht, die dahinterliegende ursprüngliche Form des Mythos zu erkennen. Primär- und Sekundärreferenzen fügen sich sinnfällig in dieses Modell ein, indem die expliziten Primärreferenzen auf der Ebene der Aktualisierung wirken, die Sekundärreferenzen aber erst durch den Blick „hinter die Fassade“ erkenn- und deutbar werden.

 

Abb. 2 Moby-Dick als neuer Mythos. Die Primärreferenzen, die expliziten Verweise auf die Kultur des alten Ägypten, sind dem zeitgenössischen Leser unmittelbar zugänglich und schaffen den interpretativen Raum, innerhalb dessen auch die impliziten Sekundärreferenzen erkannt und gedeutet werden können. Grafik: KL

 

Ausgelöst durch die im 19. Jahrhundert Europa und Nordamerika erfassende Ägyptenbegeisterung in Folge der Napoleonischen Expedition von 1798 bis 1801, hatten altägyptische Motive Eingang in die literarischen Werke der Schriftsteller der American Renaissance gefunden. Bei keinem von ihnen sind diese Bezüge jedoch von solcher Tragweite und in besonderem Maße sinnstiftend wie in Melvilles Meisterwerk Moby-Dick. Mit der Geschichte des unerbittlichen Kampfes zwischen dem monomanischen Kapitän Ahab und dem weißen Wal reaktualisiert Melville mit außerordentlicher Sprachgewalt und -tiefe Motive der altägyptischen Mythologie und kreiert einen eigenen Subtext, der es erlaubt, den Primärtext zur Gänze in diesem Kontext zu lesen und zu interpretieren. Moby-Dick wird damit zugänglich als eine auch aus psychologischer Sicht eindrucksvolle Seelenreise, deren Wurzeln in der altägyptischen Mythologie liegen und die Moby-Dick zu einem modernen neuen Mythos machen.

 

 

Weiterführende Literatur

Schmidt, K., Melvilles Moby-Dick als altägyptische Seelenreise
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-18174-4

Schmidt, K., Altägyptische Motive in Herman Melvilles Moby-Dick
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-16374-0