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Der Tempel als Kosmos Sakralarchitektur im Alten Ägypten
Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2022
6 Im Dialog mit den Göttern
Rund 100 km nördlich von Assuan, am Westufer des Nil, veranlassten die ptolemäischen Herrscher der Spätzeit den Bau eines dem Horus bzw. seiner lokal verehrten Erscheinungsform Horus Behedeti geweihten Tempels, der in der Tradition von Vorgängerbauten aus dem Mittleren und Neuen Reich stehen sollte. Wie seit Beginn der Pharaonenzeit sollte er eine Verbindung zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen herstellen und einen Austausch zwischen beiden ermöglichen. Heute kennen wir diese Anlage als Horus-Tempel von Edfu.
Der Baubeginn erfolgte 237 v. Chr. unter Ptolemaios III. Euergetes I. und wurde unter Ptolemaios IV. Philopator und dessen Nachfolgern fortgesetzt. Die Architektur des Tempels entspricht idealtypisch dem Grundriss des seit dem Neuen Reich etablierten „Standardtempels“. Der Kernbau der Anlage wurde in den Jahren 237 bis 142 v. Chr. fertiggestellt, 140 bis 124 v. Chr. folgte der Pronaos. 116 bis 71 v. Chr. entstanden der Große Hof und der Pylon. Der Abschluss des Baus fällt mit dem Jahr 57 v. Chr. in die Regierungszeit von Ptolemaios XII. Neos Dionysos, der diverse Reliefs am Pylon anbringen ließ.
Der Tempelbezirk ist von einer umlaufenden Mauer aus Lehmziegeln umgeben. Am Eingangstor fordert eine Inschrift die Eintretenden auf: „Habt Ehrfurcht vor Horus Behedeti, dem großen Gott, dem Herrn des Himmels, dem Buntgefiederten, der aus dem [Horizont] hervorkommt […].“ Dem eigentlichen Tempel sind ein großer, offener Hof sowie linkerhand ein Geburtshaus vorgelagert, in dem die Geburt des Harsomtus gefeiert wurde, der in Edfu mit Atum gleichgesetzt wurde und daher z. B. menschengestaltig als thronende Gottheit im Papyrusdickicht dargestellt wurde. Inschriften des Tempels nennen weitere Anlagen, Kapellen und Wirtschaftsgebäude, von denen jedoch im besten Fall noch einzelne Blöcke erhalten sind. Der ehemals vorhandene Heilige See liegt vermutlich unter den Häusern der modernen Stadt begraben. Bauweise und Dekoration des Edfu-Tempels folgen einem bewusst komponierten Gesamtkonzept, in dem Architektur, Bilder und Texte unmittelbar ineinander greifen. Ein wichtiges Gestaltungsmerkmal ist – ebenso wie bei anderen altägyptischen Sakralbauten – die Achsensymmetrie, die über die Längsachse des Tempels einander gegenüberliegende Gebäudeteile und Dekorationen in Beziehung setzt. Der Tempel wird so in eine linke und eine rechte Hälfte geteilt, die baulich (Anzahl von Säulen, Kapellen u. ä.) und häufig auch mit Blick auf die Dekoration spiegelbildlich arrangiert sind.
Wir haben im Seminar zahlreiche Details der Tempelanlage besprochen, so z. B. den Tempelumgang mit den Wasserspeiern in Löwenform, in deren Gestalt auf mythischer Ebene die Niederwerfung des Seth durch Horus verkörpert wird. Dabei wird – typisch für das mythische Denken der Alten Ägypter – nicht nur des bedrohlichen Aspekts eines heftigen Regens gedacht, sondern es wird auch sein positiver Aspekt, der dem Land Fruchtbarkeit bringt, aufgegriffen: Auf dem Sockel finden sich Darstellungen der Nilgötter, die von der Aussage begleitet werden, dass sie „die Menschen am Leben erhalten und den Acker zu seiner Zeit überschwemmen.“ Die Eingangspylone zeigen das tradierte, wirkmächtige Bildtopos vom Erschlagen der Feinde, das auch bereits auf der Narmer-Pallette aus der Zeit der Reichseinigung um 3100 v. Chr. zu finden ist. Im Kontext des bildmagischen Denkens konstituiert die Abbildung die Wirklichkeit, d. h., der Sieg über die Feinde war für die Alten Ägypter kein nur im Bild geäußerter Wunsch, sondern gesicherte Realität. Die Pylone symbolisieren die Säulen, die den Himmel stützen, und zugleich den Ost- und Westberg, also die mythischen Randzonen der Welt, in denen der Sonnengott täglich aus der Unterwelt empor- bzw. in sie hinabsteigt. Eine dort platzierte Inschrift lautet: „Behedeti, der große Herr und Gott des Himmels, ist vom Himmel gekommen in seiner Ge[stalt] des Buntgefiederten. Er lässt sich nieder auf dem Tor [dem Pylon], als dem Sitz, den sein Herz begehrt.“ Der sich anschließende Große Hof war in ptolemäischer Zeit auch dem gemeinen Volk zugänglich. Hier wurden Feste gefeiert und Opfer dargebracht, theologisch gedeutet wurde der Hof als „Vollendeter Palast der Nut“ bezeichnet. Nach altägyptischer Vorstellung beugt sich die Himmelsgöttin Nut in Gestalt einer Frau über die Erde und bildet so mit ihrem Körper das Himmelsdach – und tatsächlich spannt sich anstelle eines steinernen Daches die Weite des Himmels über dem nach oben offenen Hof. Der Tempel ist – wie alle altägyptischen Sakralbauten – als Abbild des Kosmos geschaffen: Sein Boden gleicht der Erde, seine Decken dem Himmel, und die zwischen beiden aufstrebenden Säulen symbolisieren die Vegetation, die entlang des fruchtbaren Nilgürtels üppig gedieh, wenn die Götter den Menschen gewogen waren und eine reiche Nilschwemme sandten. Das Text- und Bildprogramm des Pronaos weist ihn als Empfangshalle aus, die vom Großen Hof in das Innere des Tempels führt. Die Dekoration zeigt die wichtigsten Gottheiten Ägyptens und ordnet sie zu einer Göttergemeinschaft an, die den – auch theologischen – Zusammenhalt des Landes symbolisiert.
Von dem sich anschließenden Erscheinungsaal gehen mehrere Räume ab, die vermutlich der Vorbereitung der Trank- und Speiseopfer dienten. Diese wurden den Göttern im nachfolgenden Opfertischsaal, begleitet von kultischen Handlungen, dargebracht. Vom Opfertischsaal führen linker und rechter Hand Treppenhäuser hinauf auf das Dach der Anlage. Zum Neujahrsfest wurden die Götterbilder aus dem Inneren des Tempels in einer Prozession auf das Dach getragen und dort den belebenden Strahlen der Sonne ausgesetzt, damit sie sich erneuern konnten. Im „Saal der Neunheit“, dem letzten Raum vor dem Allerheiligsten, werden in Wort und Bild zahlreiche Götter angesprochen. Diese repräsentieren vermutlich zum einen als pars pro toto das Pantheon, zum anderen sollten sollten sie vermutlich eine beschützende Funktion für das Sanktuar ausüben, dem spirituellen Zentrum der Anlage. Dieses verfügt über ein eigenes Dach und erscheint so wie ein Tempel im Tempel. Die darauf stehenden Pfeiler, die eine Verbindung zum eigentlichen Dach des Tempels schaffen, sind geschickt nach hinten versetzt, so dass sie vom Boden aus unsichtbar bleiben. Kleine Kapellen um das Sanktuar herum sind verschiedenen Gottheiten im Kontext des Horuskultes geweiht.
Im Inneren der gesamten Tempelanlage ist wieder das übliche Ansteigen des Bodenniveaus zu beobachten. Der höchste Punkte wird im Allerheiligsten erreicht, das den mythischen Urhügel symbolisiert. Im seinem Inneren wurde in einem Schrein eine Kultstatue des Horus aufbewahrt, und hier, im Herzen des Tempels, preist das Morgenlied an der Fassade des Sanktuars die wohlwollende Gegenwart des Gottes in der Schöpfung: „Erwache friedlich. Du mögest gut und in Frieden erwachen. Erwache, Horus Behedeti, mit Leben! Die Götter sind früh auf am Morgen, um zu verehren Deinen Ba [die Sonne], den prächtigen geflügelten Skarabäus, der am Himmel aufleuchtet; denn du bist es ja, der mit der Schöpfung beginnt am (Morgen)himmel und das Land mit Goldstaub erfüllt, der auflebt im Ostgebirge, der hinabsinkt ins Westgebirge und in Edfu schläft, Tag für Tag.“
Über Jahrtausende war es der fromme Wunsch der Alten Ägypter, dass die Götter ihrem Land gnädig sein und es mit ihrer Gegenwart erfüllen mögen – damals und bis in alle Zeit. Um mit ihnen zu kommunizieren und den geschaffenen Kosmos zu erhalten, der alle Tage wieder gegen das herandrängende Chaos verteidigt werden musste, erbauten sie mächtige Tempelanlagen. Und die erzählen uns bis heute von einem einzigartigen Dialog mit den Göttern.
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