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Ägyptologie-Seminare > Mythologie und Götterwelt > 1 Einführung

Einführung in die Mythologie und Götterwelt der alten Ägypter

Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2019

 

1 Einführung in die altägyptische Götterwelt: Das mythische Denken erklärt die Welt

Der Begriff Mythologie bezeichnet eine Erzählung aus der Welt der Götter, häufig unter Verknüpfung mit der Welt der Menschen. Er wird kultur- und religionsübergreifend verwendet, z. B. spricht man auch von christlicher Mythologie. Im alten Ägypten fungiert er als Erklärung für den Ist-Zustand der Welt, d. h., er erläutert, warum die Welt so ist wie sie ist. Häufig schildern Mythen den Widerstreit gegensätzlicher Mächte, beispielhaft ist dies in den Schöpfungsgeschichten (kosmogonische Mythen) umgesetzt, in denen zumeist der Schöpfergott (erfolgreich) mit einem Widersacher um den Bestand der Schöpfung ringt. In der altägyptischen Mythologie ist die initiale Schöpfung, vergleichbar dem Christentum, jedoch zunächst eine ungestörte Entfaltung des Guten, bevor zu einem späteren Zeitpunkt der Antagonist hinzutritt. Im alten Ägypten ist dies v. a. der Schlangendämon Apophis, im Christentum der Teufel. Mythen schaffen Identität und soziale Kohärenz und bedienen sich dazu symbol- und bildhafter Darstellungen archetypischer Inhalte. Der aus der Analytischen Psychologie C. G. Jungs entlehnte Begriff der Archetypen beschreibt Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Archetypen sind Teil des kollektiven Unbewussten und als solcher unanschaulich und unbewusst, ihre Wirkmacht ist aber in symbolischen Bildern feststellbar: Diese nehmen in Träumen, in der bildende Kunst, der Literatur, aber v. a. auch in Märchen und Mythen körperliche Gestalt an (die Hexe, der Zauberer, der gute König, der Drache u. a.). Auch in den mythologischen Texten der alten Ägypter begegnen diese Figuren: Sie treten in Gestalt der altägyptischen Götter und Dämonen auf und veranschaulichen exemplarisch unbewusste basale Muster, die dem menschlichen Denken und Handeln zugrundeliegen.

Mythisches Denken

Das mythische Denken ist eine besondere Form der Welterkenntnis. Es deutet die Welt und die tagtäglichen Ereignisse als das Wirken übermenschlicher Wesen und erlebt den Kosmos als beseelt und von der Gegenwart bzw. dem Wesen des Schöpfergottes selbst durchdrungen. Mythisches Denken ist additives Denken, d. h., es erlaubt kontinuierlich die Aufnahme neuer Vorstellungen und Ideen. Dies erklärt, warum es insbesondere im Kontext polytheistischer Glaubensstrukturen anzutreffen ist. Diese sind i.d.R. offene Religionssysteme, d. h., sie sind bereit, Impulse von außen aufzunehmen und zu integrieren anstatt sich abzuschotten. Das altägyptische Pantheon erweitert sich entsprechend über die gesamte Zeit des Pharaonenreiches durch die Inkorporation fremdländischer Gottesvorstellungen und Götter, die wahlweise synkretistisch verschmolzen oder aber als neue Gottheiten etabliert werden. Ein berühmtes Beispiel für ersteres ist die aus griechisch-römischer Zeit stammende Gottheit Serapis, in der u. a. der altägyptische Osiris sowie die griechischen Götter Zeus, Hades und Äskulap zu einer neuen Figur verschmelzen.

Speziell im altägyptischen Kontext ist der von dem niederländischen Ägyptologen und Altorientalisten Henri Frankfort (1897-1954) geprägte Begriff der „multiplicity of approaches“ von großer Bedeutung. Er verweist auf die konkurrenzfreie Summierung unterschiedlicher mythologischer Konzepte und Bilder für die Beschreibung des gleichen Glaubensinhaltes, wie er im alten Ägypten besonders deutlich z. B. an den Schöpfungsmythen abzulesen ist. Mit den Kosmogonien von Heliopolis, Memphis, Theben, Hermupolis und Elephantine standen hier allein fünf unterschiedliche Geschichten über den Beginn der Schöpfung zeitgleich zur Verfügung, die landesweit von Bedeutung waren.

Verdrängt wird das mythische Denken letztlich erst mit dem Siegeszug des rationalistischen, deterministischen Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ aus dem Jahr 1917 spricht der deutsche Soziologe und Ökonom Max Weber (1864-1920) pointiert von der „Entzauberung der Welt“.

Ursprünge der altägyptischen Religion

Im 6. Jahrtausend v. Chr. siedelten nomadische Stämme im Gebiet des heutigen Ägypten. Sie wandten sich von ihrem bisherigen Jäger- und Sammlerleben ab und etablierten eine auf Ackerbau und Viehzucht basierende Gesellschaft. Die jährlichen Nilüberschwemmungen boten dafür außergewöhnlich günstige Bedingungen, da ertragreiche Ernten durch diese Besonderheit des Niltals i.d.R. leicht zu erwirtschaften waren. Eine Theorie besagt, dass dieses begünstigte Leben fast automatisch gedankliche Freiräume schuf, die für die Ausformung einer reichen Mythologie förderlich waren. Viele altägyptische Götter sind Verkörperungen von Naturerscheinungen. Die Beobachtung der scheinbaren Bewegung der Sonne über den Taghimmel ließ vermutlich schon früh die Idee eines täglich vom Kind zum Greise alternden Gottes entstehen, der in den Nachtstunden eine geheimnisvolle Regeneration erlebte. Die Beobachtung zyklischer Rhythmen der Natur fand ihren Wiederklang in den kleinen und großen Rhythmen der Schöpfungsgeschichten und in den Göttern der alten Ägypter. Aus heutiger Sicht ist in der altägyptischen Mythologie eine faszinierende Identität von quasi wissenschaftlicher Naturbeobachtung und religiösem Glauben zu erkennen, der den Wissensdurst einer jungen Hochkultur mit der tiefen Frömmigkeit einer Gesellschaft verband, die sich als aktiven Teil der sie umgebenden Welt wahrnahm.

 

⇒ 2 Wie alles begann: Die Schöpfungsmythen