|
Einführung in die Mythologie und Götterwelt der alten ÄgypterKurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
3 Die Natur als göttliches Weltgebäude und das Wesen des KönigtumsNachdem sich der vorangegangene Abschnitt mit dem uranfänglichen Chaos, der Bewusstwerdung des Schöpfers und der Erschaffung der Welt befasst hat, soll nun der Aspekt der Herrschaft im Mittelpunkt stehen (Stadien 4-6).
4. Herrschaft des Schöpfers/Sonnengottes Grundsätzlich handelt es sich bei der Herrschaftszeit des Schöpfers um eine zunächst widerstandslose Entfaltung des Guten, eine Art Goldenes Zeitalter. Dies bleibt im alten Ägypten im Wesentlichen unbeschrieben. Von größerem Interesse und größerer Relevanz waren offenbar die Disharmonien, die sich gegen Ende der Regierungszeit des Schöpfers ereignen und die mit ihren Konflikten und Lösungsversuchen vielleicht einen bedeutenderen Gegenwartsbezug boten. Vor allem zwei Mythen beschäftigen sich mit diesem Themenkomplex: „Der wahre Name des Re“ und „Die Vernichtung des Menschengeschlechts“. Sie liefern nicht nur Erklärungen für die Entstehung von Teilen des altägyptischen Weltgebäudes, sondern „Die Vernichtung des Menschengeschlechts“ leitet darüber hinaus den Übergang zur Herrschaft anderer Götter ein. Diese mündet schließlich in der Herrschaft der Pharaonen, also in dem historischen Kontext, in dem die alten Ägypter sich selbst befanden. In „Der wahre Name des Re“ möchte Isis, die mächtige Zauberin, Res wahren Namen erfahren, da dieser große Zaubermacht birgt. Re verwehrt ihr diese Information jedoch, sodass Isis zu einer List greift: Dem greisen Sonnengott tropft immer einmal ein wenig Speichel aus dem Mund, und Isis fängt etwas davon auf und nutzt es, um daraus eine Schlange zu formen. Der Biss der Schlange verursacht dem Schöpfer starke Schmerzen, und er ruft die anderen Götter zu Hilfe, die jedoch keinen Rat wissen. Allein Isis sagt, sie könne ihm helfen, wenn sie nur seinen wahren Namen wüsste. Re zögert, gibt dann angesichts der starken Schmerzen aber nach. Daraufhin heilt Isis ihn und ist fortan im Besitz des kostbaren Wissens, nach dem sie gestrebt hatte. Um Isis, einer eigentlich durchgehend positiv besetzten Göttin, dieses moralisch fragwürdige Vorgehen nachsehen zu können, berichtet der Mythos, dass sie den Namen später an ihren Sohn Horus weitergegeben habe, damit dieser sich mit dessen Zaubermacht vor seinem bösen Onkel Seth schützen konnte, der ihm nach dem Leben trachtete. „Die Vernichtung des Menschengeschlechts“ berichtet wie auch schon „Der wahre Name des Re“ davon, dass der Sonnengott alt geworden ist, und seine Kräfte schwinden. Als die Menschen dies erkennen, verschwören sie sich gegen ihn und wollen ihn seiner Macht berauben. Re erfährt jedoch von der Intrige und entsendet daraufhin sein feuriges Auge, das in Gestalt der löwenköpfigen Göttin Sachmet erscheint. Sie soll die Menschen für ihren Verrat am Schöpfergott bestrafen. Das tut sie, indem sie die Schuldigen in der Wüste stellt und ein Blutbad anrichtet. Anschließend fällt sie in einen tiefen Schlaf, und der Mythos berichtet, dass sie vorgehabt habe, nach ihrem Erwachen den Rachefeldzug fortzusetzen. Re betrachtet ihr Werk und entschließt sich jedoch, dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Er lässt große Mengen Bier brauen und mit einem roten Farbstoff versetzen. Dieses wird über dem Schlachtfeld vergossen. Als Sachmet erwacht und die rote Flüssigkeit sieht, hält sie sie für Blut und beginnt, erfreut von ihrem scheinbar so großen Erfolg, diese aufzulecken. Betrunken fällt sie erneut in Schlaf und erwacht besänftigt. Sie kehrt zu Re zurück und nimmt ihre liebliche Form der Katzengöttin Bastet an. Re aber ist von dem Verrat der Menschen so enttäuscht, dass er beschließt, sich von der Welt an den Himmel zurückzuziehen. Dies tut er, indem die Himmelskuh ihn hinaufträgt, und fortan reist Re tagtäglich mit seinem Sonnenschiff am Bauch der Kuh (der das Himmelsgewölbe ist) entlang. 5. Herrschaft nachgeordneter Götter Auf Erden tritt Res Sohn Schu, der Luftgott, die Nachfolge seines Vaters an. Er ist es, der einst durch die Trennung von Himmel und Erde (verkörpert durch die Himmelsgöttin Nut und den Erdgott Geb, beide Kinder Schus) das eigentliche Weltgebäude entstehen ließ, weshalb auch er von den alten Ägyptern als Schöpfergott verehrt wurde. Auf ihn folgt sein Sohn Geb, der in seiner Funktion als Erdgott eine ambivalente Figur ist: Er wirkt lebensspendend (fruchtbare Erde), aber auch todbringend (z. B. in Gestalt von Erdbeben). Geb und seine Gemahlin Nut, die Himmelsgöttin, haben vier Kinder, die Götter Osiris und Seth sowie die Göttinnen Isis und Nephthys, die auch jeweils als Paare miteinander verbunden sind: Osiris und Isis sowie Seth und Nephthys. Als Geb seinen erstgeborenen Sohn Osiris zum Nachfolger bestimmt, wird der ehrgeizige Seth von Neid und Hass übermannt. Nach einer Weile des ruhm- und segensreichen Regierens, währenddessen sich Osiris als Kulturbringer des alten Ägyptens etabliert, ermordet Seth seinen Bruder, entsorgt den Leichnam und reißt die Krone an sich. Der Osiris-Mythos schildert, wie Osiris’ Gemahlin Isis nach ihm sucht und den Körper schließlich – nach einem ersten Rückschlag – an sich bringt. Es gelingt ihr, postum von ihrem Gemahl den gemeinsamen Sohn Horus zu empfangen. Aus dieser Situation entwickelt sich ein weitreichender Konflikt, der die familiären Zwistigkeiten noch bei weitem übersteigt: Nachdem Horus zum Mann herangewachsen ist, stellt sich die Frage, wer – Seth oder Horus – die Königskrone fortan tragen darf. Auf der einen Seite steht der mächtige, erfahrene und kraftvolle Kämpfer Seth, auf der anderen der junge und unerfahrene Horus, der aber der Sohn des Osiris ist. Um den Konflikt zu lösen, wird ein Göttertribunal unter Vorsitz von Re selbst einberufen und ringt lange um eine Lösung (Abb. 1).
Abb. 1 Nachfolge des Osiris: Zur Wahl stehen Osiris’ Bruder Seth, der seinen Bruder zwar ermordet hat, auf der Positivseite jedoch seine Erfahrung, Macht und Führungskraft aufweisen kann (Kriterien des Leistungsprinzips), und Osiris’ Sohn Horus, der zwar noch jung und unerfahren ist, aber das genealogische Prinzip auf seiner Seite hat. Grafik: KL
Nach zahllosen Auseinandersetzungen der beiden Kontrahenten, die als „Streit von Horus und Seth“ zusammengefasst werden, fällt am Ende die Wahl des Göttertribunals auf Horus und etabliert damit das genealogische Prinzip als das der Königsnachfolge. Diese Entscheidung besitzt nicht nur in der Welt der Götter Gültigkeit, sondern auch in der der Menschen, wie es sich in der pharaonischen Thronfolgeregelung zeigt. 6. Die Herrschaft der Pharaonen Jeder regierende Pharao verstand sich als Inkarnation des Gottes Horus. Die Identifizierung bedeutete eine Einbindung in den mythologischen Kontext der Heliopolitanischen Neunheit (s. o.) ebenso wie in den des Osiris-Mythos: Der verstorbene Pharao wurde im Tod zu Osiris, sein Sohn/Thronfolger wiederum zu Horus. Der neue Pharao schlüpfte durch diese Verteilung mythologischer Rollenvorbilder automatisch in die Rolle des göttlich legitimierten Thronerben, denn der Mythos zeigt auf, dass es die genealogische Nachfolge war, die göttlich sanktioniert und gewollt war. Analogieschlüsse wie dieser gaben den Menschen Orientierung: Mythologische Vorlagen vereindeutigten reale Handlungsoptionen und zeigten den erstrebten, Ma’at-gerechten Weg auf (die Göttin Ma’at galt den alten Ägyptern als Verkörperung der gerechten Weltordnung und kann als eine Art moralischer Verhaltenskodex der altägyptischen Gesellschaft verstanden werden). Zwischen der Götter- und der Menschenwelt gab es in beide Richtungen zahlreichen Verbindungen. Der Pharao war oberster Priester aller Kulte des Landes und hatte in dieser Funktion die Aufgabe, die mythologisch ausgeführten, sich in Zyklen (Tag, Jahr, Regierungszeit etc.) wiederholenden Abläufe zu unterstützen und so zum Erhalt der Schöpfung und dem Triumph der Ordnung über das Chaos beizutragen. Die Götter beschenkten Ägypten im Gegenzug mit ihrer Gunst, die sich u. a. in ertragreichen Ernten, erfolgreichen Feldzügen oder gut gefüllten Staatskassen ausdrücken konnte. Auf die Herrschaft der Pharaonen, die nach altägyptischer Vorstellung eine an die Ewigkeit grenzende Zeit dauern würde, folgte das Ende der Welt und die Rückkehr in das uranfängliche Chaos, das am Ende des Seminars genauer betrachtet werden soll.
|