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Einführung in die Mythologie und Götterwelt der alten ÄgypterKurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
2 Wie alles begann: Die SchöpfungsmythenDie mythologische Zeitlinie der alten Ägypter besteht aus sieben Stadien, die in diesem und den folgenden Kapiteln behandelt werden sollen. In diesem Kapitel stehen der chaotische Urgrund, die Bewusstwerdung des Schöpfers und die Erschaffung der Welt im Mittelpunkt.
1. Chaos/Urgrund Das uranfängliche Chaos ist zugleich der Urgrund der Schöpfung. Es enthält die Summe alles Möglichen und bedeutet uneingeschränkte Potenz. Die alten Ägypter beschreiben diesen Zustand als „bevor zwei Dinge entstanden waren“. Ganz offen wird hier die Homogenität der Urmasse in Worte gefasst, der gegenüber die Schöpfung, typisch für das ausgeprägt duale Denken der alten Ägypter, auf Gegensatzpaaren basiert: Erde und Himmel, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, männlich und weiblich sind nur einige Beispiele dafür. Beachtenswert ist, dass – obwohl diese Denkweise auch in anderen Gesellschaft zu finden ist (inklusive unserer modernen) – bei den alten Ägyptern die Begriffspaarung einen Zwangscharakter besitzt, der in anderen Kulturen weniger stark ausgeprägt ist: Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Dies gilt auch für das Gegensatzpaar „geschaffene Welt“ und „Welt vor der Schöpfung“ (alternativ: Ordnung und Chaos). Deutlich wird dies in der Vorstellung des die Schöpfung umgebenden Urozeans Nun. Beide Aspekte (das Geformte und das Ungeformte) bleiben auch nach dem Schöpfungsakt erhalten und ineinander verwoben. Eine Aufhebung dieses Gegensatzes ist nach altägyptischer Vorstellung nur durch die Rückkehr in die Homogenität oder Eindeutigkeit des uranfänglichen Chaos möglich, die gleichbedeutend ist mit dem Ende der geschaffenen Welt. 2. Bewusstwerdung des Schöpfers Der Schöpfer wird sich in den Wassern des Urozeans seiner selbst bewusst. Die Bilder dafür sind vielfältig: Vom Sonnengott beispielsweise heißt es, er sei selbsterstanden, geboren von einer Kuh, einem Lotos oder Ei entstiegen oder aber als Vogel erschienen. All diese Motive beschreiben den Beginn des Schöpfungsaktes und versuchen die Frage nach dem „Wie?“ der Separation von ungeordnetem, chaotischen Urgrund und geordneter, strukturierter Schöpfung zu erklären. Antworten darauf liefern die verschiedenen Kosmogonien (Schöpfungsmythen), die sich nach Henri Frankfort mit dem Begriff der multiplicity of approaches beschreiben lassen, denn obwohl so unterschiedliche Motive verwendet werden, stehen diese gleichberechtigt nebeneinander, ohne erkennbar in Konkurrenz zu treten. Die verschiedenen Kosmogonien versuchen, die Entstehung der Welt in vertraute Bildern zu fassen, die häufig aus dem Alltag entlehnt sind. Sie sind die Grundlage der altägyptischen Gesellschaft(-sstruktur), wirken identitätsstiftend und besitzen alle gleichermaßen einen eigenen Wahrheitsanspruch. Abweichend von unserer modernen Einschätzung ist dies jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Alleinanspruch, sondern erlaubt im Gegenteil ohne Einschränkung die Parallelität unterschiedlicher Sichtweisen. 3. Erschaffung der Welt Die Bilder für die Erschaffung der Welt waren vielfältig. Nachfolgend werden die fünf bekanntesten Schöpfungsmythen vorgestellt, mit deren Hilfe die alten Ägypter den Ursprung der geschaffenen Welt zu beschreiben suchten. Kosmogonie von Hermupolis Schöpfer: Achtheit von Hermupolis, vier Urgötterpaare, die den Zustand der Welt vor der Schöpfung repräsentieren. Nun und Naunet verkörpern den Urozean, Huh und Hauhet die Endlosigkeit, Kuk und Kauket die Urfinsternis und Amun und Amaunet die Unsichtbarkeit bzw. den unsichtbaren Lufthauch. Aussehen: Die vier Männer werden als Frösche, die vier Frauen als Schlangen dargestellt. Methode: Energieausbruch (Selbstopferung?), gefolgt vom Aufsteigen des Urhügels, auf dem der Schöpfergott erscheint; alternativ Aufsteigen einer Lotosblüte, aus deren sich öffnender Blüte der Schöpfergott emporsteigt.
Kosmogonie von Memphis Schöpfer: Ptah, Schutzgott der Handwerker, Goldschmiede und Bildhauer Aussehen: Mumifizierter Mann mit enganliegender blauer Haube und Was-Zepter Methode: Schöpfung durch das Wort, mit Hilfe von Sia (dem Herz, im alten Ägypten Sitz des Verstandes und der kreativen Gedanken) und Hu (der Zunge).
Kosmogonie von Elephantine Schöpfer: Chnum, ursprünglich Fruchtbarkeitsgott und Gott der Nilflut, später auch als Schöpfergott verehrt Aussehen: Mann mit Widderkopf Methode: Formt alle Lebewesen und Dinge auf seiner Töpferscheibe und haucht ihnen, manchmal mit Hilfe von Magie, Leben ein.
Kosmogonie von Theben Schöpfer: Amun(-Re), belegt seit dem Alten Reich, im Mittleren Reich Lokalgottheit Thebens; im Neuen Reich steigt Amun zum König der Götter auf (Henotheismus). Als Amun-Re umfasst er Re, Min und Amun und ist damit zugleich ein Sonnen-, Fruchtbarkeits- und Wind- bzw. Luftgott. Aussehen: Mann mit Doppelfederkrone, häufig wird er mit blauer Haut dargestellt. Methode: Pantheistisch, d. h., Amun ergießt sich selbst in die Schöpfung und bleibt zugleich als deren Schöpfer erhalten. Alle Götter, Lebewesen und Dinge sind damit Verkörperungen Amuns.
Kosmogonie von Heliopolis Schöpfer: Atum/Re), verantwortlich für die Kontinuität der Schöpfung (Sonnenlauf) Aussehen: Mann mit der Doppelkrone Ägyptens (Atum) oder Mann mit Falkenkopf und Sonnenscheibe (Re) Methode: Formung des ersten Götterpaars durch den Erguss von Körperflüssigkeiten, wahlweise durch Masturbation oder Niesen, anschließend genealogischer Aufbau der Neunheit von Heliopolis (Ennead, Abb. 1).
Abb. 1 Neunheit von Heliopolis (grau hinterlegt), ergänzt um Horus. Ab der 6. Dynastie wird Atum zunehmend durch Re ersetzt. Grafik: KL
Bei den hier vorgestellten Kosmogonien handelt es sich um die (uns heute) bekanntesten Schöpfungsgeschichten der alten Ägypter. Sie erlauben einen Einblick in die große Vielfalt der Vorstellungen von der Erschaffung der Welt und illustrieren die in ihren Bildern ausdrucksstarke und farbenfrohe mythische Welt des alten Ägypten.
⇒ 3 Die Natur als göttliches Weltgebäude und das Wesen des Königtums |